Heft 
(2023) 116
Seite
62
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62 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte setzung unterbreitet dem aufmerksamen Blick nämlich ein lexikalisches Kuriositätenkabinett, in das folgende Einblicke lohnend scheinen. Die ersten erstaunlichen Übersetzungsfunde stammen aus dem Kapitel »Von Besançon bis Lyon «, in dem Fontane bereits im Originaltext eine leicht schaurige Rumpelkammer inszeniert. Im Gefängnis von Lyon wird der Er­zähler in»eine Art Fremdenstube« einquartiert, bei deren erstem Anblick er zurückschreckt: Eine unglaubliche Lokalität! Bettlaken, Strümpfe, Chemisen aller Arten und Grade lagen in den Ecken aufgeschichtet, dazwischen halberbro­chene Bücherkisten, Koffer von Seehundsfell, die längst die letzte Borste eingebüßt; an den Riegeln aber hingen rote Militärhosen(letzte Garni­tur), verstaubte Uniformstücke, ein verrosteter Degen und Spinnweben in langen Fahnen. Besonders bedrohlich erschien mir ein großer aufge­platzter Sack mit Kalbshaar, der mitten im Zimmer lag und eine Art Ge­birgsstock für alles übrige bildete. Einen ähnlich ängstlichen Eindruck machte das Bett.(F 85) Von einem bewohnbaren Zimmer kann kaum die Rede sein; die unheimli­che Abstellkammer grenzt an ein Gruselkabinett, dessen eigenartiges Ge­rümpel beklemmende Angstgefühle weckt. Besonders furchteinflößend sind der»Sack mit Kalbshaar« und das Bett, jedoch wird die von ihnen aus­gehende Bedrohung in der Übersetzung deutlich abgeschwächt. Quel étrange capharnaüm! Des draps de lit, des bas, des chemises de toutes sortes et de toutes tailles, gisaient entassés dans les coins. Entre deux, des caisses de livres à demi défoncées, un coffre plein de peaux de requins, dépourvues depuis longtemps de leurs derniers poils. A des clous étaient suspendus des pantalons de soldats, des uniformes cou­verts de poussière, une épée rouillée, et, reliant le tout, des guirlandes de toiles daraignées. Laspect du lit nétait pas non plus très engageant. (T 88) Während durch Fontanes»unglaubliche« Szene noch ein Hauch an shakes­pearehafter Fantastik 29 über die letzten, rostig-verstaubten Relikte roman­tischer Motive dahinweht, scheint bei Jean Thorel die anfängliche Be­zeichnung»Fremdenstube«»chambre détrangers« auf den weniger bedrohlichen als buchstäblich befremdlichen Gesamteindruck abzufärben: Die Stube wirkt nicht»unglaublich«, sondern»étrange«, also»seltsam«. Fontanes Lokalität steht im Zeichen des Irrationalen(»unglaublich«), Thorels »capharnaüm« im Zeichen des Fremden. Noch frappierender ist aber die Aussparung des aufgeplatzten Sacks mit Kalbshaar, der doch zusätzlich zu seiner zentralen Position»mitten im Zimmer« durch die überdimensionie­rende Gebirgsmetaphorik im Originaltext nicht zu übersehen ist. Da Thorel den Kalbshaarsack aus dem Text streicht und auch den folgenden Satz unter­treibend übersetzt, 30 ist von dem vorherrschenden Bedrohungsgefühl im französischen Text nichts mehr zu spüren. Stattdessen stolpert der franzö-