Heft 
(2023) 116
Seite
63
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Kriegsgefangen in der Übersetzung von Jean Thorel  Anke 63 sischsprachige Leser über ein anderes Kuriosum, und zwar die»Truhe vol­ler Haifischhäute, die längst die letzten Haare eingebüßt[haben]«(»un coffre plein de peaux de requins, dépourvues depuis longtemps de leurs derniers poils«). Ein psychoanalytischer Ansatz wäre versucht, in dieser Verwandlung vom Säugetier zum Raubtierfisch verdrängte Angstgefühle wieder auftauchen zu sehen; auch könnte es sich um eine versehentliche Paarung von Kalb und Seetier handeln. Doch aus welchem Grund die bors­tigen Seehunde zu behaarten Haien mutieren, bleibt unklar. Interessant ist jedoch die mutmaßliche Intention, den furchterregenden Charakter des Originaltexts herunterzuspielen, auch wenn Thorels Versuch, die Gefäng­niszelle etwas wohnlicher zu gestalten, missglückt. Für den Übersetzungswissenschaftler erhält die Szene allerdings eine besondere, symbolische Bedeutung: Kaum eine Stelle versinnbildlicht so trefflich den ethischen Gestus der Übersetzung als»sprachliche Gast­freundschaft«. 31 Die etymologische Nähe der lateinischen Begriffe»hospes« (Gastgeber) und»hostis«(Fremder, Feind), die auch in den französischen Begriffen»hospitalité«(Gastfreundschaft) und»hostilité«(Feindschaft) wie­derzufinden sind, entfaltet im Falle von Kriegsgefangen ihre volle Bedeu­tung. In den 1890er-Jahren bildete Fontanes französische Abstammung den ideologischen Knotenpunkt seiner Rezeption; kein einziger französischer Rezensent lässt diese biographische Facette unkommentiert, fungiert sie doch in nahezu allen Kritiken als Deutungsschablone seines Werks. Doch das hugenottische Blut trübt Fontanes klares Fremden- bzw. ›Erbfeind‹­Profil, da er sich, Fremdes und Nationales gleichzeitig in sich vereinend, »zwischen den Linien« 32 bewegt. Seine Unvoreingenommenheit verunsi­chert binäre Feind/Freund-Positionen:»Man spürt sehr wohl, dass er unter diesem feindlichen Volk nicht ganz ein Fremder ist«, schreibt der französi­sche Kritiker André Hallays im Journal des débats. 33 Tatsächlich unterwan­dert Fontane in Kriegsgefangen die dominierenden»Erbfeind«-Narrative; dass er die rhetorischen Fronten verschiebt, wirkt sich sogar bis in die Titel der französischen Rezensionen aus: Im LÉvènement titelt 1892 ein Artikel Ein Feind... ein Freund( Un ennemi... un ami), 34 ein anderer 1898 Hommage an einen Feind( Hommage à un ennemi). 35 Die Übersetzung eröffnet dabei einen»symbolischen Raum«, in dem»eher die Möglichkeit einer Symbiose von Selbst und Anderem als die Vorstellung des Anderen als Alter Ego in Aussicht gestellt wird«. 36 Die» Fremdenstube« ist gewissermaßen ein solch symbolischer Raum, der die Spannungen zwischen Selbst und Anderem reflektiert. Eine weitere größere Verwandlung, die sich diesmal im Kapitel»Mou­lins« vollzieht, kann hingegen auf bestimmte, literarisch-kulturelle Rah­menbedingungen zurückgeführt und besser rationalisiert werden. In Mou­lins wird Fontane in ein pittoreskes Gefängnis geführt:»ein alter Donjon der Grafen von Bourbon, sehr mittelalterlich, eine Art ›Bastille‹. ›Tout-à-fait