Heft 
(2023) 116
Seite
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64 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte dans le style avant 1793‹«(F 97). Fontane muss»eine Art Wendeltreppe hin­auf, wie sie alle alten Türme haben« und durch einen»holprigen Steinflur« auf ein»spärliches Licht« zutappen, das von der»Infirmerie« ausgeht: Ich konnte im ersten Augenblick, bei dem Dunkel, das auch hier noch vorherrschte, nur wahrnehmen, daß wir uns in einem ungewöhnlich großen Raum befanden; ob Saal, Halle oder Kornboden, war zunächst nicht zu unterscheiden. Schreck und Heiterkeit wechselten in meiner Stimmung; alles war gespenstisch und lächerlich zugleich. E. T. A. Hoff­mann hätte hier eine glückliche Stunde feiern können. Auch in mir über­wog bald ein gewisses poetisches Interesse jede andere Regung.(F 98) Wie Domrémy ist auch das Gefängnis in Moulins für Fontanes»poetisches Interesse« ein Projektionsort, in dessen intertextueller Verwobenheit noch die literarischen Geister der Romantik nachspuken: Verwinkelte Architek­tur, barockes Chiaroscuro und mittelalterliche Mauern im vorrevolutionä­ren Stil bilden die atmosphärische Voraussetzung für eine märchenhafte Kulisse, die mit der Erwähnung E. T. A. Hoffmanns restlos in die romanti­sche Fantastik hinübergleitet. In diesem Dekor porträtiert Fontane auch seine Mitgefangenen, unter denen sich ein lateinischer Sprachlehrer befin­det, der»seit Jahr und Tag[...] als Auxiliar-cuisinier die Gefangenensuppe« kocht und»den Wechsel der Dinge«, so heißt es,» en philosophe« behandelt: Am Fenster brannte das Lämpchen und hatte seinen Lichtkreis. In die­sem Lichtkreis saß der lateinische Lehrer und Auxiliarkoch und las in Rabous»La grande Armée«. Weißhaarig, die große Brille auf der gro­ßen Nase, sah er aus wie eine Eule. In dem weiten Rest des Zimmers herrschte Dämmerung.(F 100) Noch größer ist die Dämmerung, die in der französischen Übersetzung vor­herrscht und die Szene in ein unheimliches, nahezu übernatürliches Licht taucht: Japercevais toujours dans lenfoncement de la fenêtre la petite lampe et son petit cercle de lumière. Dans ce cercle ressortait la silhouette du »professeur de latin et cuisinier auxiliaire« occupé maintenant à lire la Grande Armée de Rabou. Avec ses cheveux blancs et ses grandes lunet­tes sur son nez daigle, il avait tout à fait lair dune sorcière. Tout le reste de lénorme pièce était plongé dans le crépuscule.(T 110) Die Konturen werden unscharf und der Lateinlehrer hebt sich nun lediglich als schattenhafte»Silhouette« aus dem Lichtkreis ab. Der fontanesche Eu­len-Vergleich ermöglicht es, die Elemente Nacht und Philosophie in einem Bild symbolisch zu verdichten; indem Thorel aber die ornithologische Kom­ponente auf die Nase verlagert, gibt er Raum für eine neue Metamorphose. Der Lateinlehrer lässt sich rückübersetzt wie folgt porträtieren:»Mit seinen weißen Haaren und der großen Brille auf seiner Adlernase, sah er ganz aus wie eine Hexe.« So scheinen in dem Dämmerlicht neben den literarischen Gattungsgrenzen auch die ontologischen Grenzen zu verschwimmen und