Heft 
(2023) 116
Seite
85
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Georg Friedlaenders Aus den Kriegstagen 1870 D'Aprile 85 haltigen historischen Quelle. Zudem liegen interessante Querbezüge zu Fontanes autobiografischer Darstellung in Kriegsgefangen auf der Hand. Wie bei Fontane steht auch bei Friedlaender das Thema»Kriegsgefangen­schaft« im Fokus nur sozusagen komplementär gespiegelt: Friedlaender schildert es nicht wie Fontane aus der Perspektive des Gefangenen, sondern aus der des Gefangenenaufsehers. Die unmittelbaren Reaktionen auf Friedlaenders Veröffentlichung schließ­lich stellen geradezu ein Musterbeispiel dar für Fragen nach dem Zusammenhang von Militarismus und Antisemitismus im Kaiserreich, zum Verhältnis von autoritärem Obrigkeitsstaat und Rechtsstaat oder auch zur spannungsreichen Stellung von Nachfahren jüdischer und hugenottischer Zuwanderergruppen in Preußen in dem von ihnen miterkämpften Natio­nalstaat des Kaiserreichs. Fragt man nach den Gründen für die fehlende Rezeption von Friedlaen­ders Erinnerungen, stößt man auf ein ganzes Bündel unterschiedlicher Ur­sachen. Dies beginnt mit der gezielten Rufmordkampagne gegen Friedlaen­ders Buch inklusive eines gegen ihn angestrengten Ehrengerichtsverfahrens durch dessen Regimentskommandanten und weitere Offiziere. Die sich dar­in manifestierenden Monopolansprüche des Militärs auf Kriegsdarstellun­gen, die in diesem Fall nicht zuletzt eine antisemitische Komponente hatten, sind nur ein Exempel für die im Kaiserreich nicht selten repressiv durchge­setzte offizielle Sicht auf den Krieg, die ihr akademisches Komplement in der nationalborussischen Geschichtsschreibung hatte. Beides prägte zum Teil unmittelbar, zumeist aber auch unbewusst und subkutan durch implizite Wertungen, konzeptuelle Vorentscheidungen und blinde Flecken noch lan­ge die deutsche Nationalgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Hinzu kommt, dass wichtige Dokumente zur Entstehung und Wirkung von Friedlaenders Kriegsbuch, namentlich die gesamten im Besitz der Fami­lie Fontane befindlichen Briefe Friedlaenders an Theodor, von Emilie und Friedrich Fontane vernichtet worden sind, wodurch Friedlaenders Stimme bis heute aus den Diskussionen um Fontane weitestgehend getilgt ist. Auch eine von ihm unmittelbar nach Fontanes Tod geplante Briefedition wurde von den Nachfahren des Dichters verhindert. Aus literaturgeschichtlicher Perspektive wird man schließlich drittens auch den lange Zeit stark Klassiker-fixierten Fokus auf Fontane berücksich­tigen müssen. Während man jedes einzelne Wort des Meisterdichters drei­und fünfzehnfach gewendet hat, interessierte man sich für die Gegenüber weniger. Als der Germanist Kurt Schreinert 1954 endlich die ihm von Friedlaenders Tochter Elisabeth übergebenen Fontane-Briefe publizierte, erwies er der Fontane-Forschung damit einen unschätzbaren Dienst und leitete geradezu eine»Fontane-Renaissance« in der Germanistik ein. 4 Und doch konnte Schreinert sich in der Einleitung seiner Edition nicht enthal­ten, Friedlaender oberlehrerhaft herabzuwürdigen. So glaubte er über den