Heft 
(2023) 116
Seite
86
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86 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte ihm weder persönlich noch durch umfangreicheres Textmaterial bekann­ten Friedlaender urteilen zu können:»Es fehlt ihm am Vermögen, das schlicht Gegebene reflektierend zu verallgemeinern«,»er besitzt nicht den kritischen Blick und die Skepsis Fontanes und vermag nicht so tief auf den Grund zu sehen« und zusammenfassend:»Friedlaender war wie gesagt eine begrenzte Natur.« 5 Dass Schreinert, ab 1934 NSDAP-Mitglied und dann auch Leiter des NSDAP-Parteistützpunktes Dorpat, zu diesem Zeit­punkt selbst gerade erst seine eigenen Irrtümer bekannt und seine formale »Entnazifizierung« erlangt hatte, gibt solchen Aussagen eine besondere Note. 6 Mit Blick auf die so grob umrissenen Fragenkomplexe und Leerstellen soll im Folgenden in einem ersten Schritt Friedlaenders Kriegsbuch vorge­stellt werden, wobei es vor allem um die Anfangskapitel geht, in denen er über seine Erfahrungen mit den ersten in Berlin eintreffenden französi­schen Kriegsgefangenen im Spätsommer 1870 berichtet. Im zweiten Teil werden die unmittelbaren Reaktionen auf das Kriegsbuch rekapituliert. Während diese bislang beinahe ausschließlich aus Fontanes Briefen und Tagebucheinträgen rekonstruiert werden konnten, sollen sie hier durch ei­nige bislang unbeachtete Textzeugnisse von Friedlaender ergänzt werden. Friedlaenders Erinnerungen an den Krieg Georg Friedlaender, geboren 1843 in Berlin, stammte aus der weitver­zweigten Familie des berühmten preußisch-jüdischen Aufklärers und maß­geblichen Architekten des»Emanzipationsedikts« von 1812 David Friedla­ender(1750–1834), der sein Urgroßvater war. Bereits sein Großvater war zum Protestantismus konvertiert, sein Vater Gottlieb Friedlaender(1805– 1878) gehörte als Geheimer Staats- und Kabinettsarchivar zur gehobenen preußischen Beamtenschicht. Georg Friedlaender und seine Familie zähl­ten ab den frühen 1880er-Jahren zu Theodor Fontanes engstem Freundes­kreis. Die Freundschaft dauerte über mindestens 15 Jahre bis zu Fontanes Tod im Jahr 1898. Seit der ersten Sommerfrische der Fontanes in Krumm­hübel(Karpacz), das nur einen Spaziergang von Friedlaenders Wohn- und Arbeitsort Schmiedeberg(heute Kowary) entfernt lag, haben die Fontanes und die Friedlaenders bis zu Fontanes Tod die allermeisten Sommerreisen gemeinsam verbracht zunächst kamen die Fontanes regelmäßig nach Schlesien, später verabredete man sich zu gemeinsamen Kuraufenthalten in Karlsbad. Außerdem hielten sich Friedlaenders häufig in Berlin auf. 1892, im Jahr von Theodor Fontanes schwerer Depression, erwogen die Fontanes sogar einen Umzug zu Friedlaenders nach Schlesien. 7 Bereits während seines Berliner Jura-Studiums hatte Georg Friedlaen­der als 23-jähriger Soldat am Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 teil-