Heft 
(2023) 116
Seite
94
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94 Fontane Blätter 116 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte in die Avantgarde gehörten und so schnell als möglich vorwärts müß­ten. So seien sie denn rastlos marschirt, hätten plötzlich schießen gehört und bald selbst geschossen, ohne eigentlich ihre Feinde erblickt zu ha­ben. Dann seien sie ohne viel Zeitverlust geschlagen und gefangen ge­nommen und sehr bald darauf wiederum auf die Eisenbahn gesetzt worden. Ueberall mit Jubel begrüßt, kämen sie jetzt in Spandau an, fän­den es kalt und unfreundlich und wären sämmtlich sehr müde. 25 Der Alltag der Gefangenen wird detailliert und durchaus mit ethnografi­schem Einfühlungsvermögen geschildert. Neben allem anderen war das größte Problem die Kälte: Aber wer konnte den Afrikanern ihre Wärme geben? Und bei ihren Garderobe- und Toilettengewohnheiten brauchten sie davon ein doppelt Theil, weil Alles im Freien abgemacht wurde. Nach dem gen Osten ge­richteten Morgengebet seiften sie sich den Oberkörper bis auf die Kopf­haut und rasirten einander mit Messern,[] Auch die weißen Pluderho­sen, Gürtelbinden und Gamaschen, sowie die stoffreiche Leinwand des Turban wurden häufig gewaschen und auf dem Rasen der Schanzen zur Naturbleiche ausgebreitet.[] sie fröstelten eigentlich beständig. Die Fähigkeit zur Empathie schreibt Friedlaender dabei nicht nur sich selbst zu, sondern auch den Gefangenen. Sofort hätten diese erkannt, dass der 27-jährige Reserveleutnant kein abgebrühter Lagerkommandant war. So bauten sie ihrem»petit commandant«, wie sie ihn nannten,»zum Schut­ze gegen die Witterung in höchst geschickter Weise ein Gourbi«, also eine traditionelle nordafrikanische Hütte. 26 Durchaus Unterstützung und Hilfsbereitschaft zeigte nach Friedlaen­ders Erinnerungen die Berliner Bevölkerung. Damit die Gefangenen ihren täglichen Bedarf an Nahrung und weiteren Grundbedürfnissen decken konnten, habe er am Gefängnistor eine Sammelbüchse»zur Aufnahme von Geldspenden« platziert,»welche die Besucher willig opferten«. Besonders hervor tat sich dabei die namentlich genannte»Augusta L.«, eine früher berühmte Tänzerin, die sich häufig auf den langen Weg vom Berliner Lützowufer nach Spandau gemacht habe, um den Gefangenen»Zucker, Sei­fe und Lectüre« zu bringen. 27 Als ein besonders eindrückliches Beispiel für die menschliche Kommu­nikationsfähigkeit selbst über alle Sprachbarrieren, Bildungsschranken und kriegerischen Frontstellungen hinweg erzählt Friedlaender ausführ­lich die Geschichte der merkwürdigen Brieffreundschaft zwischen der Spandauerin Lina, die weder Französisch noch überhaupt Lesen und Schrei­ben konnte, und einem jungen Algerier namens Henri. Gesprochen haben sich die beiden nie und wäre es geschehen, so hätten sie sich nimmer verstanden, denn nur die Augensprache war ihnen ge­meinsam. Deshalb bedienten sie sich auch zum Schreiben zuverlässiger Interpreten und zwar schrieb der im Elsaß geborne Unteroffizier Hoh-