132 Fontane Blätter 116 Freie Formen der rigorosesten Auswahl, und beschränkte man sie auf fünf Bände, dürfte Effi Briest nicht vermissen lassen.« Kein Zweifel also: Wir haben es bei Heinrich und Thomas Mann mit zwei bekennenden Kennern, mit zwei passionierten Verehrern zu tun. Und ich finde es recht aufschlussreich, dass beide eins jener wunderbaren Porträts besessen haben sollen, die Max Liebermann 1896 fixiert hat: dieses melancholisch-nachdenkliche, skeptisch-wissende, gütig-väterliche Bild vom»alten Fontane« eben. Aber: Die Einigkeit der beiden in der Verehrung Fontanes ändert die Tatsache nicht, dass sie – jenseits der frühen, jugendlichen Übereinstimmung – in nahezu allen anderen existenziellen Bereichen gänzlich verschiedener Meinung waren und als eine Art»feindlicher Brüder« in die Kulturgeschichte eingegangen sind – zumal sie diese Gegensätze in Kunst und Leben regelrecht und öffentlich ›ausgetragen‹ haben. Wie heftig Thomas Manns unglaubliche Kehrtwende im Jahre 1914 selbst in seine Fontane-Adaption hineinwirkte, hat vor geraumer Zeit Heinrich Detering an dieser Stelle eindrucksvoll erläutert. Vom Bruderzwist im Hause Mann Und eben diese rasant umgekrempelten politischen und kulturellen Positionen Thomas Manns lösten den sogenannten»Bruderzwist im Hause Mann« aus, den man – weniger euphorisch – als das prominent personifizierte Paradigma der Zerrissenheit, der Spaltung deutscher Intellektueller bezeichnen oder auch die unheilvolle Unversöhnlichkeit zwischen rechts und links, zwischen konservativ und demokratisch, zwischen Reaktion und Fortschritt nennen könnte. Dieser»Bruderzwist« umschließt also die absolut gegensätzliche Haltung der Brüder im und zum ersten Weltkrieg; sie bezieht sich auf die Polarisierung und Politisierung ohnehin vorhandener ästhetischer und moralischer Meinungsverschiedenheiten, und sie bedeutet biographisch den oft jahrelang andauernden Abbruch jeglicher persönlichen Beziehung. Ich möchte Sie zunächst an ein paar wenige grundsätzliche Äußerungen der Kontrahenten erinnern, die die unglaubliche Tiefe des Grabens zwischen den beiden beleuchten und allenfalls durch die Ernsthaftigkeit der Argumente und die Brillanz der Formulierungen ein bisschen versöhnlich stimmen können – es sind eben Zitate von Thomas und Heinrich Mann! Wenn von nun an Thomas Mann den negativen Part in den Auseinandersetzungen übernimmt, liegt das an den Fakten und nicht etwa am Vorurteil des Referenten. Meine Haltung gegenüber den beiden will ich einleitend gleich klarstellen: Zur größten Hochachtung für den streitbaren Demokraten und persönlich engagierten Hitler-Gegner Heinrich Mann, für den Autor von Untertan und Henri Quatre gehört in gleicher Weise die Faszination
Heft
(2023) 116
Seite
132
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