Heft 
(2023) 116
Seite
157
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Das Nachleben der Muse  Woywode 157 Die Stärke der Arbeit wird deutlich, wenn gleich im ersten Abschnitt der analytische Schwerpunkt auf Balzacs Roman La Muse du département und damit auf einen bisher recht vernachlässigten Text gelegt wird. Fischer prüft die etablierte und vereinseitigende Lesart des Titels, nach der hier nur »ein rein ironischer Seitenhieb auf eine Provinzfigur«(28) gemeint sein könne, die sich ungehörige intellektuelle Bestrebungen anmaße und dafür bereits im Titel abgestraft werde. Fischer hingegen liest den Roman über die schreibende Provinzmuse primär als Geschichte bzw. als»Bild weibli­cher Bewusstwerdung und weiblicher Ermächtigung«(56). Demnach ge­lingt es der Protagonistin, vermittelt über die Überschreitung der Erzähle­benen, sich»von der erzählten Titelheldin des Textes zur sich selbst inspirierenden Autorin ihres eigenen Romans«(29) zu emanzipieren und sich von den abwertenden Zuschreibungen des patriarchalen Erzählers zu lösen, dessen unentwegte Wertungen und Erklärungen ihre eigene Ironi­sierung anzeigten. Fischer erliegt allerdings nicht dem pathetischen Be­geisterungspotential einer solchen Überwindungserzählung, sondern kon­statiert sachgemäß:»Von der poietischen Wirkmacht der antiken Gottheiten ist Dinah[die Provinzmuse, FW] natürlich dennoch weit entfernt.«(71) Und das nicht zuletzt deshalb, weil sie im Roman selbst zum erzählten Gegen­stand wird und die traditionelle Inspirationssituation durch ihre Schwan­gerschaft»pervertiert« wird: Die Muse inspiriert nicht mehr den von ihr erwählten Dichter, sondern wird selbst von diesem Dichter zur erwählten Geliebten gemacht und befruchtet; wörtlich, denn er ist rein körperlich an ihr interessiert(vgl. 79). Während er selbst schriftstellerisch nichts hervor­bringt, schreibt Dinah unter seinem Namen und diktiert ihm ihre Texte. Dadurch»degradiert« sie den»inspirierten Kreativen zum bloßen Sprach­rohr«(80) und erhöht sich selbst, nachdem sie zunächst als anmaßende Pro­vinzmuse verspottet wurde, zur autonom schreibenden(vgl. 80) zehnten Muse von Paris. Dass sie zuletzt»in ihre ursprünglichen Verhältnisse als Ehefrau«(83) zurückkehrt und die Rolle als schreibende und inspirierende Muse aufgibt, deutet Fischer dennoch als Selbstbestimmungsakt einer Muse, die»sich über die Grenzen der Diegese hinwegzusetzen vermag«(85) und schließlich zur»Autorin ihres eigenen Romans«(86) wird, indem sie der Literatur entsagt. Im zweiten Teil der Arbeit zeigt Fischer, wie in James The Tragic Muse um die titelgebende Muse, eine Schauspielerin namens Miriam Rooth, ein »Netz aus mimetischen Bezügen« gesponnen wird, mit dem das»antike Po­tential der Muse zur Kreation« durch das»Konzept der ewigen Mimesis, in dem Abbilder immer wieder zu Vorbildern werden«, in Frage gestellt und »jede Form der Ursprünglichkeit negiert« wird.(94) Die tragische Muse ver­liert ihr Inspirationsvermögen für originäre Kunstwerke, ihre»Musenhaf­tigkeit«, und wird selbst zum mimetischen Abbild abgewertet(vgl. 103). Wie Fischer zeigt, besaß diese Muse die höhere Inspirationskraft ihres antiken