Der Trotzkopf (1885) und Effi Briest (1895) Wege 51 Mama«, aber wenn Annie brav sei und nicht weine, wolle er ihre»Wildheit« verzeihen(E 271). Dies sagt Innstetten in jener Szene, als er nach einem Verband sucht, den er Annie anlegen will, nachdem sie sich verletzt hatte, als sie mit Roswitha um die Wette die Treppe hochrannte, stolperte und mit dem Kopf aufschlägt – ein Spiel, das mit Effis Kletterlust vergleichbar ist. Auf der Suche nach dem Verband findet Innstetten die Liebesbriefe des Majors im gewaltsam aufgebrochenen Nähtisch seiner Frau. Bei Fontane steht dieses Nähzeug für erotisch kompensatorische Handarbeit, durchaus vergleichbar mit der rebellischen Strickstrumpf-Szene im Trotzkopf, dessen erotische Konnotation von der Forschung überzeugend als »unterschwellig« beschrieben wurde. 12 Blumen und Vögel Als auffällig erweisen sich auch die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Romanen hinsichtlich einiger konkreter, die Wildheit und das Freiheitsstreben des Weiblichen besonders veranschaulichender Details. Rhoden setzt Vögel leitmotivisch als Symbole für zu züchtigende Natürlichkeit, mangelnde Bodenständigkeit und unziemliche Freiheitsliebe ihrer Protagonistin ein, wobei sie Ilses ›unweibliche‹ vogelfreie Eigenschaften zu einem gewissen Grad als verständlich kennzeichnet, jedenfalls nicht vollends als einseitig ›böse‹ verdammt. Im Hinblick auf Rhodens unverkennbar erzieherische Gesamtabsicht lässt sich schwer einschätzen, inwiefern die leserseitigen Sympathien für diese Freiheitsbestrebungen, die sicherlich wesentlich zur Identifikation der zeitgenössischen Leser:innen mit der Hauptfigur beitrugen, von der Autorin beabsichtigt sind. Der Roman erscheint hier liberaler, als mutmaßlich von der Autorin einkalkuliert. Für ein zumindest modernisiertes Bewusstsein weiblicher Geschlechterrollen spricht, dass Rhoden der eindeutig unsympathischen Vorsteherin alter Schule, die Ilses»zügellosen Sinn« gnadenlos verdammt, die Ansichten des vergleichsweise fortschrittlichen Lehrers Dr. Althoff entgegenstellt, der Ilses»tüchtigen Kern« erkennt, lobt und ihre Wandlung von der bäuerlichen(sprich knabenhaften) Art in»ein liebenswürdiges, natürliches, echt weibliches Wesen« voraussagt(T 98). Dieser Ansicht pflichtet auch die gutmütige Lieblingserzieherin, Fräulein Güssow, bei: Man müsse»Geduld haben mit unserm wilden Vogel, der bis jetzt nur die Freiheit kannte«, denn er werde schlussendlich noch zur fleißigen, strebsamen Frau heranreifen(T 99). Dr. Althoffs Ansichten bewirken, dass fast alle Schülerinnen für ihn schwärmen und sich»wie die Stoßvögel« auf eine rote Nelke stürzen, die er auf dem Lehrerpult liegengelassen hat. Blumen, Vögel und auch Kletterpartien in luftige Höhen(hierzu Näheres unten) stehen im Roman für eine weibliche Erotik und Natürlichkeit, die nur
Heft
(2024) 117
Seite
51
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