52 Fontane Blätter 117 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte dann nicht verdammt wird, wenn sie exklusiv dem Gatten in einer bürgerlichen Ehe zugutekommt. So heiratet Dr. Althoff am Ende seine ehemalige Schülerin, die Blumenfreundin Nellie. Symbolisch deutet sich die Liebe der schüchternen und tugendhaften Schülerin zu ihrem Lehrer durch einen Veilchenstrauß an, den sie ihm ans Revers steckt, was den Zorn der lustfeindlichen Vorsteherin erregt. Dieses aktive ›unzüchtige Balzverhalten‹ der Frau wird im Nachhinein durch die Heirat legitimiert(T 224). Zu den Dingen, die Ilse von zu Hause mit in die Pension bringt, gehört ein ausgestopfter Kanarienvogel(T 18).»Frei wie der Vogel in der Luft« klettert Ilse nachts auf einen Apfelbaum(T 107), doch langfristig wird ihr dieses Tierische gründlich ausgetrieben:»O, du lernst schon, Kind. Wirst noch ein ganz zahmer, kleiner Vogel sein«(T 56). Was Nellie prophezeit, bestätigt der Schluss des Romans: Auf dem Rückweg von der Pension nach Hause verliebt sich Ilse in den Sohn eines Landrats, einen braven Juristen mit besten Karriereaussichten und damit in den Augen der Eltern ein Mustergatte beziehungsweise idealer Schwiegersohn. Den Rosenstrauß, den Ilse nach der ersten Begegnung von Leo bekommen hat, bewahrt sie wochenlang auf, und als der Verehrer sie endlich in ihrem Elternhaus besucht, eilt Ilse»wie ein Vogel« die Treppe zu ihrem Zimmer hoch, um»Toilette« zu machen. Oben angekommen putzt sie sich für ihn heraus, verwandelt sich also in eine Dame, was sie zu Beginn des Romans noch verweigert hatte(T 277). Bei dieser Wiederbegegnung, während die Abendsonne»durch das rote Weinlaub« fällt, blickt sie Leo in die Augen»wie eine wilde Taube, die sich im Netze gefangen hat«(T 290). Aus der freiwilligen Gefangenschaft dieser Ehe zu fliehen, wird dem»Fischchen«(T 296) nicht in den Sinn kommen. Vögel sind bei Fontane keine Nebensache, zumal sie mit Luft- und FlugMotiven eng verwandt sind; man denke an Melusine von Barbys Vorliebe für Aeronauten( Der Stechlin) oder Hugo Großmanns Interesse an einer Zirkusakrobatin( Mathilde Möhring ). Sie kommen in systematisch symbolischer Funktion in zahlreichen Romanen vor, beispielsweise in Ellernklipp , Schach von Wuthenow , in Irrungen, Wirrungen und besonders ausgeprägt in Stine ; in sämtlichen Werken stehen sie für erotisch konnotierte Freiheit. Signifikant im Hinblick auf Effi Briest ist folgendes Detail im Trotzkopf: Einige Wochen nach ihrer Ankunft in der Pension schreibt die unter Heimweh leidende Ilse einen Brief nach Hause, der mit Vögeln verziert ist:»Sie schlug die Schreibmappe auf, wählte nach langem Suchen einen rosa Bogen mit einer Schwalbe darauf«(T 65). Dass es eine»lange« Suche ist, spricht für die ›tiefere‹ Bedeutung des Vogels und die Sorgfalt bei der Wahl des Motivs seitens der Figur wie der Autorin. – Solche Sorgfalt lässt auch Fontane walten, wenngleich er die Symbole sparsamer einzusetzen weiß. An Weih nachten erhält Effi eine Postkarte von ihrem Vetter Dagobert, der ein moderner Freigeist ist, sich für die liberale Satirezeitschrift»Die Fliegenden Blätter « begeistert(E 23) und sich in doppeldeutigen Anspielungen ergeht.
Heft
(2024) 117
Seite
52
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