58 Fontane Blätter 117 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte durchfällt. Im Lustspiel geht es um die»Heilung eines widerspenstigen Mädchens«(T 221). Ilse spielt darin erwartungsgemäß sich selbst, das heißt einen Trotzkopf, der durch die Liebe zu einem Mann kuriert wird, weil dieser es versteht, im»Wildfang[…] durch Güte und Festigkeit die Tugenden […] zu wecken und die Widerspenstige zu zähmen.«(T 222) Die Ehe als Zähmungsanstalt im Theaterstück gewährt eine Vorschau auf Ilses Zukunft. Immerhin übernimmt die erstaunlich exzentrische Russin Orla die Rolle des Mannes im Jägeranzug, 24 und Ilse steht bei ihrem Auftritt letztmalig in ihrem»verwilderten« Blusenkleid auf der Bühne, welches hierfür eigens um einen Matrosenkragen(!) erweitert wird(T 220). Fazit Nach der Heimkehr der Tochter»segnet« Ilses Mutter das Pensionat, weil es »aus dem wilden Kinde eine liebliche, sinnende Jungfrau geschaffen hatte«, die gelernt habe, ihren Übermut zu zügeln(T 274). Zwar legt der allzu nachgiebige Vater ein leises Bedauern über die Metamorphose seiner unbändigen Tochter an den Tag, was von der Mutter jedoch umgehend mit Hinweis auf die bevorstehende Heirat des zur Dame gereiften Mädchens beiseite gewischt wird. Der Romanschluss feiert in aller Eindeutigkeit und Einseitigkeit Ilses sittliche Läuterung, die Zähmung eines widerspenstigen Backfischs, als Sieg der Erziehung zu vernünftigem Verhalten und moralisch gemäßigtem Gefühl. Eine generalisierte Verteuflung natürlicher Impulsivität bleibt bei Rhoden gleichwohl aus; das lässt die eindeutig negative Konzeption der lustfeindlichen Miss Lead und auch der rigiden Vorsteherin erkennen. Bei aller Kritik, die die Erzählerin und die Eltern am Ungehorsam des Mädchens üben, bleibt die Hauptfigur den Leser:innen aufgrund ihres natürlichen, wilden, dabei aber herzensguten und ›tüchtigen Kerns‹ sympathisch – allerdings unter der Bedingung, dass sie sich am Ende als belehrbar erweist. Diese Widersprüchlichkeit machte den Trotzkopf zur Identifikationsfigur und gilt als Ursache für den enormen Erfolg des Mädchen-Modells. 25 Dagmar Grenz verortet Rhodens Roman überzeugend in der Tradition zweier Erziehungsansätze: Einerseits halte die Autorin an der»Warn- und Strafpädagogik und der idealistisch-christlichen Auffassung vom Menschen als schwachem, fehlerhaften Wesen« fest, zugleich aber greife sie, und mit ihr die Backfischliteratur insgesamt, das modernere, romantisch geprägte Motiv der natürlich erotischen Kindfrau auf, das bereits im frühen 19. Jahrhundert von Ernst Moritz Arndt propagiert worden war. 26 Die wild-natürlichen Bestrebungen der Hauptfigur finden bei Rhoden nur retrospektiv und bis zu einem gewissen Grad Akzeptanz, und zwar insofern, als sie von der Autorin als erzieherisch überwindbar vorgeführt und unter dieser Voraussetzung als fehlerhaftes, aber verzeihliches Stadi-
Heft
(2024) 117
Seite
58
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