Heft 
(2024) 117
Seite
94
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94 Fontane Blätter 117 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Nerven. Sie beruht auf streng ünstlerischen Gesetzen einer rhythmischen Symmetrie. Sie lebt und atmet und pulsiert auf dem Papier, als wenn sie re­zitiert würde. Das alles muß sie bei einer Übersetzung verlieren, gleichviel in welche Sprache es sei.«(S. III.) Viele Nuancen, auf die es bei diesem Kunstwerk ankomme, ließen sich schlicht nicht übertragen: Denn für gewisse Dinge reicht nun einmal unsere sonst so reiche Spra­che nicht aus, ganz besonders nicht für jene unendlich feinen und reiz­vollen psychologischen Streiflichter, jenes blitzschnelle Andeuten sen­sueller Empfindungsmomente, die oft nur durch ein Wort ganze Handlungen der Personen motivieren[] In solchen Fällen galt dann eben nur der eine Grundsatz: im Anfang war der Sinn; und um diesen zu respektieren, durfte auch die freieste Handhabung des zu übersetzen­den Worts nicht gescheut werden.(S. III.–IV.) Allen freimütig bekundeten Bedenken und Befangenheiten des Übersetzers zum Trotz hat Ettlingers Übertragung Madame Bovary den Weg in die deutsche Lesewelt und Literatur gebahnt. Ein Indiz für eine gesteigerte Aufnahme des Romans in den 1890er-Jahren bieten zwei Umfragen bei prominenten Zeitgenossen nach ihren Lieblingsbüchern in den Jahren 1889 und 1894. In Die besten Bücher aller Zeiten und Litteraturen. []. Eine Sammlung von[] Äußerungen lebender deutscher Schriftsteller u.s.w. über die besten Schätze der Weltlitteratur und über die bevorzugtesten Bücher ihrer eigenen Neigung zur Beratung des lesenden Publikums zusammenge­stellt(Berlin 1889) kommen bei den 35 befragten Persönlichkeiten Flaubert und sein Roman gar nicht vor. In einer ähnlichen Umfrage fünf Jahre später Was soll ich lesen? Weihnachtsalmanach 1894. Äußerungen deutscher Män­ner und Frauen, eingeleitet von Hermann Heiberg , gesammelt u. hrsg. von Victor Ottmann (Berlin 1894) stufen schon fünf Autoren Flauberts Madame Bovary als wichtiges Buch und empfehlenswerte Lektüre ein: Otto Julius Bierbaum , Georg Ebers , Eduard Grisebach , Wolfgang Kirchbach und An­ton Freiherr von Perfall. Fontane hat ebenfalls an beiden Umfragen teilge­nommen und eine umfangreiche Lektüreliste eingeschickt. Flaubert ist ebensowenig dabei wie Balzac ; aus der neueren französischen Literatur empfiehlt Fontane Eugène Sues Großromane Die Geheimnisse von Paris (1843) und Der ewige Jude (1845) sowie drei Romane von Émile Zola aus seiner Rougon-Macquart-Reihe. 9 Die naheliegende Frage, ob Fontane mit Ettlingers Übersetzung in Be­rührung gekommen ist, wird man verneinen müssen. Wären Flaubert und sein Roman einmal Gegenstand des Gesprächs zwischen Fontane und Ett­linger gewesen, so hätte sich Ettlinger in seinem Nekrolog oder an anderer Stelle eine Bemerkung darüber sicher nicht entgehen lassen. Er war schließ­lich auch der erste(und lange Zeit einzige) 10 Kritiker, der 1895 mit seiner recht plakativ klingenden Behauptung»Effi Briest ist eine märkisch-pom­mersche Madame Bovary « auf die innere Verwandtschaft zwischen beiden