110 Fontane Blätter 117 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte An das spukhafte Haus und den todten Chinesen, der darin umgehen soll, hat sich Effi allmählich gewöhnt, zumal seit die kleine Annie im Hause ist. Aber vergessen hat sie davon um so weniger etwas, als Innstetten seltsamer Weise von Anfang an nichts gethan, ihr die Furcht auszureden, ja sie fast mit Absicht dabei belassen hat, und als ihr eines Tages der neue Bezirkscommandeur Major Crampas halb scherzhaft, halb anzüglich erklärt, daß Innstetten, der schon zur Zeit ihrer Kriegskameradschaft eine Vorliebe für Gespenstergeschichten gehabt habe, den todten Chinesen wohl als eine Art nützlichen Popanz für seine junge Frau betrachtet, die er so oft allein zu Hause lassen müsse, da wird sie verstimmt, und ihr ist, als sei der klare Spiegel ihrer Seele nun wie von einem fremden Hauche angelaufen. Crampas, mit dem sie in den ersten Monaten ihrer flüchtigen Bekanntschaft höchstens um seiner eifersüchtigen, kränkelnden und alternden Frau willen Mitleid gehabt hat, erscheint ihr von Stund’ an in anderem Lichte.»Er soll nämlich ein Mann vieler Verhältnisse sein, ein Damenmann, etwas was mir immer lächerlich ist und mir auch in diesem Falle lächerlich sein würde, wenn er nicht um eben solcher Dinge willen ein Duell mit einem Kameraden gehabt hätte« – so hatte sie in jener ersten Zeit an ihre Mutter nach HohenCremmen geschrieben. Jetzt beginnt der Lovelace-Nimbus des Majors sie selbst allmählich in seinen magischen Bann zu ziehen, und Crampas, dessen sieggewohnter Leichtsinn von je her jedes hübsche Weib als bonne fortune betrachtet hat, umwirbt sie mit der wohlüberlegten Zurückhaltung des scharfblickenden Frauenkenners, der sich nicht sowohl auf die Wege, als auf die Umwege der Liebe versteht, und fast mit Sicherheit schon Wochen vorher den Tag seines Erfolges zu berechnen vermag. Daß er sich auch bei Effi nicht verrechnet hat, geht freilich erst nach und nach aus dem Gange der Erzählung hervor, und vielleicht in nichts zeigt sich so sehr die feine Kunst, mit der das ganze Buch geschrieben ist, als eben darin, daß die eigentliche Katastrophe in Effis Ehe so ganz und gar im Unsichtbaren bleibt und nur ihre Schatten auf die folgenden Capitel wirft, so daß dem Leser erst aus unbestimmten Ahnungen die Gewißheit dessen, was geschehen, sich verdichtet. Einem jungen, leidenschaftlichen, rasch avancirenden Verehrer wäre Effis Festigkeit sehr wahrscheinlich gewachsen gewesen: dem so viel älteren, ihr an Sicherheit und Erfahrung so vielmal überlegenen Freund der Frauen ist sie verfallen.»Du glaubst immer, sie könne kein Wasser trüben,« sagt Frau v. Briest einmal zu ihrem Gatten, als sie von Effi sprechen und ob sie glücklich sei;»aber darin irrst Du. Sie läßt sich gern treiben, und wenn die Welle gut ist, dann ist sie auch selber gut. Kampf und Widerstand sind nicht ihre Sache.« Nur kurze Zeit währt der flüchtige Rausch; dann kommt die Rettung in Gestalt einer kaiserlichen Entschließung, die den Landrath von Innstetten als vortragenden Rath in ein berliner Ministerium beruft. Mit dem Ab-
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(2024) 117
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110
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