Heft 
(2024) 117
Seite
111
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Unbekanntes von Josef Ettlinger  Rasch 111 schiede von Kessin glaubt Effi auf immer Alles hinter sich zu lassen: sie scheidet gerne, denn was sie zu Crampas gezogen, war mehr der Einfluß der Umstände, mehr Suggestion, als Liebe, und so bald sie seiner Nähe ent­rückt ist, gewinnt sie sich selbst und ihren Willen wieder. Das Brausen der Großstadt, der Strudel des berliner Lebens nimmt sie auf, Annies Erzie­hung wird ihr Beruf, Jahre um Jahre vergehen. Dann kommt ein Tag, an dem der Ministerialrath Geert v. Innstetten mit einem befreundeten Ge­heimrath nach Kessin reist und auf einer Düne dem Major v. Crampas als Gegner die tödtliche Kugel ins Herz jagt. Effi wird eine vereinsamte Frau, da sie als der schuldige Theil keinen Anspruch auf ihr Kind mehr hat und auch die Aeltern sich von ihr lossagen; erst als ein langsames Siechthum ihre zarte Gesundheit aufzuzehren beginnt, nimmt das friedliche Vater­haus in Hohen-Cremmen sie wieder auf, und hier, wo sie ein sorg- und ­sündenloses Kind gewesen, löscht ihr Lebenslicht in Stille aus… Die innere Nothwendigkeit dieses Ausgangs ließe sich vielleicht anfechten. Effi ist kei­ne Frou-Frou und Fontane selbst sonst so gar kein Freund einer morali­schen Sentimentalität, die für eine Schuld gleich auch die schwerste Sühne fordert. Bei jedem Anderen möchte man darin leicht eine Art Concession an den Philister sehen, der im Roman und auf der Bühne nur ein Begräbniß oder eine Hochzeit als gültigen Abschluß anerkennt: bei Fontane muß uns die Gewißheit genügen, daß ihm diese Art der Lösung ein poetisches Be­dürfniß, eine Eingebung war, der er gehorchen mußte, und vor dieser höhe­ren Instanz hat sich der kritische Fürwitz zu beugen. Denn das grade macht den greisen märkischen Dichter seiner nicht all­zu weiten, aber treuen Gemeinde so theuer, daß er den Instincten und Nei­gungen der Leihbibliotheksgänger so gar kein Schrittchen jemals entge­genkommt. Ginge es blos nach der Zahl der Leser, die ein Buch sich zu schaffen weiß, so wäre vermuthlich die großstädtisch gewürzte»Ball­hausanna« ein ungleich werthvolleres Kunstwerk, als irgend ein Fontane­scher Roman , und auch nicht einer von diesen hat seit seinem Erscheinen eine ähnliche Zahl von Auflagen erreicht, wie binnen vier Wochen jüngst der neueste Klatsch- und Sturmwind-Roman aus der cloaca maxima des ber­liner Westens. Solcher Nachttisch-Lecture wird echte Kunst den Rang im Markterfolge niemals streitig machen: aber höher als der gewinnbringende Beifall einer leicht einzufangenden Menge steht ihr die überzeugungsvolle Verehrung einer verständnißvollen Minderheit. Und dieser Minderheit wird»Effi Briest « ein kostbares Geschenk sein, eine Fundstätte künstleri­scher Reize und ein neues Juwel im Kronschatze der deutschen Literatur, das seinen Meister lobt. Berlin . Josef Et t l i nger. Magdeburgische Zeitung. Magdeburg . Nr. 647, 21. Dezember 1895, Morgen-Ausgabe,[S. 1–2]