Emilie Fontanes autobiographische Novelle Möller 9 In dem Dorfe Wernsdorf 7 bei Torgau lebte ein wohlhabender Apotheker R . 8 Zu seinen eignen drei Kindern war ein mehrere Monate altes, mit einer Amme angereist gekommen, und wurde nun mit den Kindern aufgezogen. Es war bereits 3 Jahre alt geworden und wußte nicht daß es ein Fremdling in dem Hause war. Ja, der Hausherr war der kleinen Emilie sogar ganz besonders gewogen und seine Frau, 9 obgleich sie wußte daß ihr Gatte der Onkel des Kindes war, wurde darüber eifersüchtig und sah ihre Kinder durch das»fremde« in der väterlichen Zärtlichkeit beeinschränkt. Von Zeit zu Zeit kam ein Freund des Apothekers zum Besuch und brachte den Kindern, namentlich der kleinen Emilie Spielereien mit, war auch sehr liebevoll zu ihr, so daß sie sich ganz besonders zu ihm hingezogen fühlte. Oft neckte er sie und sagte er würde eimal kommen und sie mitnehmen, dann sollte sie eine große Reise mit ihm machen, worauf sich die Kleine sehr freute. Die Abneigung der Tante gegen das Kind wuchs immer mehr, ohne daß dasselbe in seiner Unschuld eine Ahnung davon hatte u. über sein künftiges Geschick war schon bestimmt als es noch harmlos mit seinen vermeintlichen Geschwistern spielte. Eines Tages wurden die Kinder durch die Nachricht erfreut, sie sollten mit der Mutter in die nächste Stadt zum Jahrmarkt fahren. Alle jubelten und jedes wollte das erste in den bereit stehenden Wagen sein. Der Vater packte sie sorg= [3] fältig ein, nahm Abschied und küßte wiederholt und mit Rührung die kleine Emilie, die unbefangen die Liebkosungen des guten Papa´s erwiederte. Im Städtchen angelangt, gingen sie zum Markte und die Mutter kaufte den Kindern all ihre kleinen Wünsche, in Spielzeug und Naschwerk bestehend, und kehrte dann mit ihnen in den Gasthof zurück, wo sie zu ihrer Freude den Freund ihres Vaters antrafen. Hier erfuhren sie, daß er gekommen sei ihre Schwester Emilie mit sich zu nehmen, worauf dann großes Weinen und Wehklagen began, und als der achtjährige Peter 10 sie schalt und sagte, du hast immer mit dem Onkel fortgewollt, nun holt er Dich im Ernst, fing sie laut zu weinen an und wollte nicht fort. Machen wir der Sache schnell ein Ende sprach der Prediger W.. 11 so hieß der Freund, eilen Sie mit den Kindern fort, da ich den Abgang der Post abwarten muß. Mit dem Versprechen den Kindern noch etwas Schönes zu kaufen, wurden sie beruhigt und fortgebracht und schluchzend das Gesicht in die Sophaecke gedrückt blieb die kleine Emilie bei dem Manne zurück, der ihr zum ersten Male als fremd erschien. Sie hörte den Wagen mit der Mutter und den Geschwistern davon rollen, sie wollte ihnen nach laufen – sie war für dieses Leben von ihnen getrennt! Von Weinen und Aufregung müde, war die Kleine eingeschlafen und erwachte erst wieder als sie sich in einem großen Wagen neben ihren neuen Beschützer wiederfand. Sie fuhren
Heft  
(2024) 118
Seite
9
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