40 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Stattdessen geht es darum, wie der im Nachbarland geführte Krieg in die deutsche Gesellschaft dringt. 13 Freunde halten, um einen Hund vor dem Ertrinken zu retten,»Kriegsrat«, 14 eben dieser Hund steckt»wie Bazaine in Metz […] bald hier, bald da den Kopf unter der Decke hervor«, 15 die Ehekämpfe des Leihbibliothekars Achtermann mit seiner Gattin gleichen den Kämpfen der Deutschen mit den Franzosen , ihr Streit mit dem Vermieter einem»Hauskriege«. 16 Hat diese Analogie von Krieg und Alltag noch einen satirischen Effekt, belegt die naturalistische Beschreibung der heimischen Lazarette die brutale Realität der Kriegsgesellschaft: Wir, das kriegsgewohnte, eiserne Geschlecht der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, wir, denen die Weltgeschichte eine ganz hübsche Musterkarte ihrer Schlachtenstücke donnernd um die Ohren schlug, wir kennen auch zur Genüge unsere Säle voll eiserner Bettstellen, Krankenwärter, barmherziger Schwestern, bleicher Gesichter und blutiger Lappen. 17 Die sozialen Folgen des Krieges rücken damit bei Raabe ebenso ins Zentrum wie bei Fontane . Realistisches Erzählen wird bei beiden Autoren zum Medium der Selbstverständigung über die deutsche Kriegsgesellschaft. Dem»deutschen Volke«, heißt es in Deutscher Adel, sei erst später klargeworden,»daß es nicht so aus dem Kriege herausgekommen war, wie es hineingegangen war«. 18 3. Bellizismus und Militarismus seit 1859 Die Analyse bellizistischer Diskurse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt, welche semantischen Verschiebungen in Bezug auf den Krieg die öffentliche Debatte bestimmten. Der Historiker Jörn Leonhard definiert Bellizismus als eine»Sinnlehre des modernen Krieges« 19 , wie sie Politiker, Intellektuelle und Publizisten öffentlich diskutierten. Es gab nicht den einen Bellizismus, sondern je nach politischer Haltung unterschiedliche Legitimationsmuster des Krieges, wobei jeder neu aufflammende Krieg, sei es der italienische Unabhängigkeitskrieg von 1859 oder die ›Einigungskriege‹ von 1864 bis 1871, neue Probleme aufwarfen und die Diskussion in eine andere Richtung lenkten. Sah das nationalliberal eingestellte Bürgertum im italienischen Unabhängigkeitskrieg noch ein mögliches Vorbild für Deutsch land , geriet es im Lauf der Jahre immer mehr in die Defensive. Die Idee einer Gründung der deutschen Nation durch eine Revolution ›von unten‹ war spätestens mit dem ›Bruderkrieg‹ zwischen Preußen und Österreich 1866 erledigt. 20 Zwangsläufig erfolgte die Reichsgründung 1871 ›von oben‹, durch einen Staatskrieg. Mit der Reichsgründung erreichte der bellizistische Diskurs seinen Kulminationspunkt; unzählige Bücher kamen auf den Markt, die die vor-
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(2024) 118
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