Heft 
(2024) 118
Seite
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Alter im Recht Rathjen 65 gen und Reformen, die Entstehung des Rechts- und Verfassungsstaates und die Erfindung der ›rationalen‹ Staatsbürokratie gekennzeichnet sind. 17 Im Stechlin spielt überdies der Zusammenhang von Gesellschaftsordnung und Altersordnung eine entscheidende Rolle. Der gesellschaftliche Wandel ist verbunden mit einem Generationswechsel, wie der Blick auf die Altersstruk­tur des Figurenpersonals zeigt. Nicht der Reifungsprozess eines Einzelnen steht im Fokus, sondern das gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnis, 18 wel­ches die Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten des Einzelnen präfi­guriert. Die komplexe gesamtgesellschaftliche ›Krisensituation‹ wird dabei vorrangig am Schicksal einer Familie präsentiert, die sich im Zeichen radi­kaler Umwälzungen mit neuen Konventionen und Normen konfrontiert sieht. Peter Hohendahl ordnet den Stechlin deshalb auch als einen Standes­roman ein, der weniger durch die heldenhafte Geschichte eines Individu­ums gekennzeichnet ist als durch die Konstellationen der Stände bzw. Klas­sen und die damit zusammenhängenden Wert- und Ordnungsvorstellungen. 19 In der Darstellung von rivalisierenden Ständen bzw. Klassen geht es Fonta­ne überwiegend um moralische Fragen, d. h. welche Werte für die Entwick­lung einer Gesellschaft förderlich sind. Der Stechlin behandelt eine in die Sinnkrise geratene Welt, die der Neubestimmung dessen bedarf, was künf­tig gelten sollte und was nicht. 20 Dabei werden sowohl das ›Alte‹, d.h. der Wilhelminische Obrigkeitsstaat und dessen drei feste Säulen, Kirche, Ar­mee und Adel, wie auch das ›Neue‹, die Globalisierung und Kommerzialisie­rung der Welt, 21 kritisch reflektiert. Denn der Stechlin präsentiert den offen­kundigen Wandel gerade nicht als einen Fortschrittsdünkel, bei dem die alten Werte lediglich durch neue überschrieben werden. Vielmehr zeichnet sich der Roman durch eine Suchbewegung nach solchen Werten aus, die die kommende Welt zusammenhalten werden, und nach den geeigneten gesell­schaftlichen Eliten, die für den Bestand einer souveränen Gesellschaftsform vonnöten sind. 2. Das altersgeschichtete Rechtssystem Zu Beginn des 19. Jahrhunderts nimmt das geltende Recht einen festen Platz als zentrale politische und gesellschaftliche Regelungsmacht des öf­fentlichen und privaten Lebens ein. Erste umfassende Gesetzeswerke wer­den verabschiedet: 1794 das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, 1804 der Code civil in den linksrheinischen deutschen Gebieten, 1871 gilt der Prozess der Konstitutionalisierung mit der Verfassung des Deutschen Reiches als abgeschlossen. Die Herausbildung des modernen Staates ist aufs Engste mit dem Ausbau des Verwaltungs- und Rechtsstaa­tes verknüpft. Mit dem Übergang vom traditionellen zum rationalen Staat im 19. Jahrhundert war unweigerlich die Ausweitung der Staatstätigkeit