Heft 
(2024) 118
Seite
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66 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte und der Aufbau von Bürokratien mit ihrer Zunahme von rechtsförmigen Regelungen und der quantitativen Entfaltung der Verwaltungsaufgaben verbunden, die sich ihrerseits auf unterschiedlichen Ebenen des politischen Lebens bemerkbar machten. Dabei knüpfen die staatlichen Bürokratien mit ihrem ausdifferenzierten Rechtssystem zunehmend an kalendarische Al­tersangaben an. Pflichten und Rechte werden entlang der numerischen Al­tersangaben innerhalb einer Gemeinschaft organisiert und für alle mög­lichst gleichermaßen verteilt. Bereits im 16. Jahrhundert ist die prägende Paarung von Recht und Al­ter zu beobachten. So wird beispielsweise der Zugang zu Ämtern, zur Steu­er- und Militärpflicht an eine bestimmte Altersgrenze gebunden, 22 wenn­gleich die Genauigkeit von derart geforderten Altersangaben nicht allzu hoch bewertet werden darf. Das Interesse an der Kenntnis des genauen Alters war äußerst gering. Noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhun­derts geht man von einer notorischen Altersunkenntnis in den unteren Ge­sellschaftsschichten aus. 23 Das genaue Alter wurde größtenteils nicht ge­wusst, vielmehr wurde es geschätzt, beliebig aufgerundet oder gänzlich erfunden. 24 Erst im Übergang zur Moderne bürgerte sich allmählich im Zuge der statistischen Erfassung und systematischen Dokumentation des genauen Alters zunächst seitens der Kirche, dann der staatlichen Bürokra­tien die»neue Sitte der Altersangabe« 25 ein. Seither kennt das menschliche Leben einen mehr oder weniger eindeutigen Anfang, das Datum der Ge­burt, von dem aus es in Tagen, dann in Monaten und schließlich in Jahren gezählt wird. Das Lebensalter, angegeben in Form einer Zahl, gehört ge­genwärtig zu einer der gängigsten und häufigsten Angaben der eigenen Person: Beim Arztbesuch, beim Kauf von Eintrittskarten, bei jedem Melde­formular, bei jeder Bewerbung und jedem Vertrag wird das Alter in Form des Geburtstages angegeben. Ständig teilen wir unser genaues Alter mit und geben es routiniert in diverse Programme ein. Dabei hat sich die Rele­vanz des numerischen Alters als feste soziale Kategorie erst allmählich in der Moderne gebildet und gefestigt. Die Signifikanz des Alters ist auf ein breites Spektrum neuzeitlicher Faktoren zurückzuführen. Besonders die Strukturtransformation im Übergang zur Moderne, d. h. die Freisetzung der Individuen aus ihren ständischen und lokalen Bindungen vormoderner Lebensformen, 26 macht das numerische Alter als Strukturkategorie not­wendig. Jenen folgenschweren Prozess der Individualisierung im Zeichen übergreifender Demokratisierungsprozesse und sozialer Mobilität legt Fontane im Stechlin der Figur Lorenzen in den Mund: Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzu­nehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fä­higkeiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu bestätigen.