Alter im Recht Rathjen 67 Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber eines Tages ein Schloßherr sein. 27 Das Vergesellschaftungsprogramm der Moderne setzt am Individuum als eigenständig konstituierte soziale Einheit an. Die Verzeitlichungsprozesse der Moderne führen dazu, dass das Alter sich von einem überwiegend kategorialen Status zu einer Lebensform wandelt, zu deren zentralen Strukturprinzipien der schematische Ablauf der Lebenszeit gehört. Mit anderen Worten: An die Stelle einer statischen Kategorie sozialer Zugehörigkeit ist eine überwiegend biografische, fluide Lebensform getreten, 28 die sich hauptsächlich am exakten Alter manifestiert und ausdifferenziert. Nun bedarf auch die lebenszeitlich geordnete Lebensform der Regelung und Regulierung – insbesondere da unter dem Zeichen der sozialen Mobilität einst unveränderliche lokale Bindungen weniger Steuerung und gesamtgesellschaftliche Planung und damit eine geringfügige Strukturierung lebensweltlicher Horizonte garantieren. Nicht mehr der Stand oder die Herkunft allein begründen Rechte und Pflichten, sondern die schlichte Jahreszahl wird zu einem zusätzlichen, tragenden Regelungs- und Steuerungsinstrument moderner Gesellschaften. Besonders im Code civil werden Rechtsnormen umfassend und mit weitreichenden Folgen an genaue Altersangaben gebunden. Zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeiten, dem Wahlrecht, erbrechtlichen Regelungen und der Wehrpflicht werden ein nüchternes Zahlzeichen an die Seite gestellt. Der menschliche Lebenslauf wird anhand dieser rechtlich kodierten Alterszäsuren zunehmend geformt und genormt. Der Code Napoléon schrieb die öffentliche Beurkundung des Geburtsdatums für seine Bürger und Bürgerinnen vor:»Declarations of birth shall be made, within three days after delivery, to the civil officer of the place: the child shall be shown to him.« 29 Damit war die Kenntnis des eigenen Alters nun nicht mehr ein herkunftsabhängiges Zufallsprodukt, sondern das Resultat staatlicher Bürokratien mit ihren Erfassungsorganen wie den ersten statistischen Bureaus und ihrem ausdifferenzierten rechtlichen Normenprogramm. Das Verhältnis von Alter und Recht ist nicht nur dahingehend zu bestimmen, dass das Recht als übergeordnetes Regelungsinstrument schablonenhaft an das Alter angegliedert und geltend gemacht wird. Vielmehr haben die Verrechtlichung und normative Verdichtung ebenso einen Anteil an der Konstruktion des Alters. Sie sind an der Ausbildung und Etablierung der numerischen Altersangaben insofern beteiligt, als die Rechtsnormen Lebensphasen begrenzen und strukturieren, Lebensverlaufsmodelle formulieren und institutionalisieren sowie die Lebenszeit nach festen Abläufen koordinieren.»Das rechtliche determinierte Lebensalter weist uns zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens eine soziale Rolle zu, formuliert Pflichten, Freiheiten, Schutzbestimmungen und Verhaltenserwartungen.« 30
Heft
(2024) 118
Seite
67
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