70 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte und dem Ableben des Vaters ein neuer Lebensabschnitt anbricht und ihm eine neue generationelle sowie soziale Rolle als Gutsherr von Stechlin zugeschrieben wird. Woldemars vorangeschrittenes Alter ist für Dubslav Anlass, ihn an seine familiären Pflichten als Erstgeborener und einziger Nachkomme zu erinnern, womit seinerseits Dubslav seinen elterlichen Pflichten nachkommt und die Verantwortlichkeiten im generationellen Gefüge allmählich auf den Sohn transferiert. Damit scheint auch die verwandtschaftliche Beziehung von Vater und Sohn in ihrer Familienfunktion näher aneinandergerückt, wenngleich die ermahnenden Worte des Vaters das altersbezogene Machtgefälle perpetuieren. Der Ablauf der individuellen Lebenszeit steht in einer unmittelbaren Beziehung zum Fortbestand des Adelsgeschlechts. An Woldemars Altersangabe von 31 Jahren – er ist erst beinahe 32 Jahre alt, d. h. sein Geburtstag naht – werden die Fragen der Zeitlichkeit auf individueller und generationeller Ebene verhandelt. Die persönlichen und endlichen Beweggründe werden durch die überindividuellen, auf Dauer gerichteten Ansprüche des brandenburgischen Adelsgeschlechts überlagert. Sein genaues Lebensalter gibt demzufolge nicht nur Aufschluss darüber, an welchem Lebensabschnittspunkt sich Woldemar als ein junger, alleinstehender Erwachsener und allseits beliebter Rittmeister befindet. Sein Alter positioniert ihn darüber hinaus auch innerhalb der adligen Geschlechterfolge. Die Verwandtschaftsordnung steht dabei in einem engen Zusammenhang zu einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung, die – den Ausgang der Erzählung im Blick – auf Kontinuitäten, aber auch Umbrüche verweist. So heiratet Woldemar ganz wie sein Vater ein »junge[s] blasse[s] Fräulein« 39 und nicht etwa die geistreiche und kapriziöse Melusine. Allerdings ist seine Zukünftige zu allem Unmut der strengkonservativen Tante nicht aus der heimischen Mark, sondern aus London und hat eine Schweizer Mutter. Die hier deutlich markierten Versatzstücke in der Erbfolge sind gewissermaßen durch die soziale Dynamik und den Wertewandel möglich. In Woldemars voranschreitendem Alter kulminieren diese existenziellen Fragen, wodurch die Alterszahl eines Individuums in einen überindividuellen Kontext gestellt wird, der bei Fontane , wie anfangs erwähnt, stets auf eine bestimmte Ordnungsleistung rekurriert, die ihrerseits mit der Sphäre des Rechtlichen verknüpft ist. Mehrere numerische Altersangaben werden angeführt, wenn Graf Barby, ein Botschaftsrat von Mitte 60, als Figur in der Erzählung vorgestellt wird. In großen Zeitsprüngen wird dessen Lebensgeschichte entlang kalendarischer Altersangaben chronologisch bündig erzählt. Dabei sind die konkreten Alterszahlen Referenz- und Erinnerungspunkte, von denen aus sich Barbys Identität stiftet und Einzelereignisse in eine sinnvolle narrative Abfolge gebracht werden. Zunächst scheint er eine gewöhnliche Karriere als preußischer Offizier einzuschlagen, die mitunter gewisse Parallelen zu
Heft  
(2024) 118
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70
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