Alter im Recht Rathjen 71 Woldemars anfänglichem Lebensweg erkennen lässt – im Text heißt es paraphrasiert: 1830 geboren, kam er mit 12 Jahren auf die Ritterakademie, mit 18 Jahren in das Regiment Garde-du-Corps, mit 30 war er Rittmeister. 40 Diese mehr oder weniger normierte Biografie wird von einem Reitunfall unterbrochen, für die folgenden Lebensetappen liefert der Text bemerkenswerterweise keine expliziten altersspezifischen Angaben. Aus der zunächst noch relativ unpersönlichen Ereignisfolge wird durch unvorhersehbare Schicksalsschläge wie dem Tod der Gattin und der Scheidung Melusines eine individuelle Lebensgeschichte. Die Präzision der zahlenförmigen Altersangaben zu Beginn der biografischen Vorstellung korreliert in gewisser Weise mit der Normierung des Lebenslaufes eines preußischen Offiziers, d. h. es kommt zu einer stärkeren Profilierung einzelner Altersmarken als standardisierte Gliederungspunkte im Lebenslauf. 41 Die Ereignisse, das Kalenderjahr und Zäsuren bilden die zeitlichen Dimensionen, in denen die Lebenszeit vorgestellt wird. Die numerischen Altersangaben ermöglichen aber nicht nur eine hochgradig zeitlich verdichtete Wiedergabe wesentlicher Lebensetappen. Überdies wirkt die Konstruktion standardisierter ›Normallebensläufe‹ als übergeordneter Orientierungsrahmen in die Lebensplanung und Alltagswelt hinein. Der hier angedeutete standardisierte Lebenslauf – zumindest die Vorstellung, dass sich das Leben entlang von zeitlichen und sozialen Positionssequenzen ordnen und ausformulieren lässt – bedeutet zum einen die Regelung des Ablaufs des Lebens und damit Vorhersehbarkeit, zum anderen»die Strukturierung der lebensweltlichen Horizonte, auf die hin die Individuen sich orientieren und ihre Handlungen planen.« 42 Ein weiteres und letztes Analysebeispiel widmet sich besonders der geschlechterspezifischen Dimension des Alters. Zu Besuch bei Pfarrer Lorenzen erkundigt sich der Superintendent Koseleger nach dem Alter eines vorbeilaufenden Mädchens, der Nichte von Lorenzens Haushälterin. 43 Sie wird mit ihren 17 Jahren zum Gegenstand eines erotisierenden männlichen Blicks. Zunächst ist allerdings auf einen Umstand zu verweisen, der vor dem Hintergrund der skizzierten Wandlungsprozesse nicht unerheblich ist. Zur Identifizierung und Charakterisierung des Mädchens werden noch vor ihrem Namen ihr Alter und ihre Position im Haus abgefragt. Das präzise Alter ist demzufolge von entscheidender Bedeutung für die Markierung einer Person innerhalb eines hierarchisch organisierten Beziehungsfeldes. Gleichsam belegt die Frage nach dem konkreten Alter des Mädchens eindeutig das sexuelle Interesse des Superintendenten . Denn Koselegers Beurteilung des genannten Alters fällt wie folgt aus: Siebzehn. Ach, Lorenzen, wie Sie zu beneiden sind. Immer solche Menschenblüte zu sehn. Und siebzehn, sagen Sie. Ja, das ist das Eigentliche. Sechzehn hat noch ein bißchen von der Eierschale, noch ein bißchen den
Heft  
(2024) 118
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