Heft 
(2024) 118
Seite
80
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80 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte ­Böschenstein unterzieht diese Zurückweisung durch Luise und die paralle­len Dreiecksverhältnisse genaueren Untersuchungen 52 , um Innstetten vom Vorwurf der Gefühlskälte zu rehabilitieren. 53 Innstetten habe im Liebes­dreieck mit Luise und Briest»eine Art seelischen Tod erlitten, als ihm von der Geliebten der etablierte Ritterschaftsrat vorgezogen wurde«. 54 Der Innstetten der Romangegenwart sei daher»ein lebendig Toter« 55 und ein »Revenant« 56 in dem Sinne, dass in ihm der abgestorbene Liebhaber Luises fortlebe und wiederkehre. 57 Mit dem Chinesen verbinde Innstetten also nicht nur das parallele Liebesdreieck und der parallele unglückliche Aus­gang ihrer Liebesambitionen, sondern auch die spukstrukturelle Parallele einer Wiederkehr des Abgestorbenen, die»Erfahrung vom Weiterleben des Toten und der Toten« 58 und»das Wissen von der fortdauernden psychischen Präsenz dessen, was tot ist oder tot sein sollte«. 59 Böschenstein resümiert: »Der tote Chinese,[], ein Mann, dem gleichfalls die Geliebte durch eine Konventionsheirat entrissen wurde, ist die Figuration von Innstettens eige­nem toten Leben.« 60 Hier scheint bei Böschenstein(und den anderen auf dieser Linie liegenden Interpretationen, s. Anm. 60) das Problem vom in­nerfiktionalen ontologischen Status des Chinesenspuks auf, das Christian Begemann in den Mittelpunkt seiner Untersuchung 61 stellt, indem er das Spannungsverhältnis von Gespenstergeschichte und literarischem Realis­mus als eine Teilausprägung der viel weitergehenden Frage nach dem, was als Realität gelten könne, versteht. Hierfür arbeitet Begemann mit den Be­griffen»des individuellen und sozialen Imaginären« 62 , das der ›Wirklich­keit‹ insofern nicht entgegengesetzt ist, als es in der Kommunikation über es für die Beteiligten Teil ihres Bewusstseins von ›Wirklichkeit‹ werden und damit ihr Agieren beeinflussen oder gar bestimmen kann. Ein solches in Wirklichkeitsbewusstsein transformiertes Imaginäre ist damit durchaus »Teil einer ›realistischen‹ Zuwendung zur ›Wirklichkeit‹«. 63 Der Chinesen­spuk sei ein solches individuelles und soziales Imaginäre:»Spuk wird so nicht nur zu einem sozialen Geschehen und einem sozialen Agens, sondern geradezu zum sozialen Effekt: Indem man über ihn redet, wird er wirk­sam.« 64 Das so verstandene Imaginäre könne strukturell als»Überlagerung von Zeitschichten des Bewusstseins« 65 beschrieben werden, für das späte 19. Jahrhundert etwa als Überlagerung von nachaufklärerischem Szientis­mus und voraufklärerischem Aberglauben. 66 Für diese»Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen « 67 sei das Gespenst»das Inbild solcher Überlagerungen, da es nicht nur als ›Figur‹ in sich selbst temporal ›geschichtet‹ ist, indem es ein nicht vergehendes Vergangenes in die Gegenwart einträgt, sondern im 19. Jahrhundert auch als Relikt einer kulturell früheren Epoche konzipiert ist«. 68 Die Darstellung von Spuk reflektiere damit durchaus ›realistisch‹ zeit­genössisches Bewusstsein von Wirklichkeit. 69 Der auf diese Weise in seiner Struktur analysierte Spuk zeigt inhaltlich auch für Begemann die Problem­und Leidensparallelität zwischen dem Chinesen und Innstetten auf.»Wenn