Heft 
(2024) 118
Seite
88
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88 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte tet«, vgl. EB, S. 28), sondern wurzelt ebenso in einem untergründigen Ge­fühl fortdauernden unbestimmten Gefährdetseins und dem daraus resul­tierenden Bedürfnis nach permanenter Selbstversicherung, die richtigen Lebensentscheidungen getroffen zu haben und den richtigen Prinzipien zu folgen. Diese tiefe Verunsicherung ist auch der Grund für Innstettens Ambiva­lenz gegenüber dem Chinesenspuk, die Effi ihm oftmals vorwirft. Auf der einen Seite erklärt er den Chinesenspuk zu einer irrealen Schauergeschich­te und überspannten Einbildung Effis, auf der anderen Seite lässt er es stets in der Schwebe,»ob es doch möglich wäre«(EB, S. 51), ob es»dochwas damit[ist]«(EB, S. 97) 93 , wie Effi mehrfach beunruhigt und ratlos anmerkt. In der hier entfalteten Deutungsperspektive ist Innstettens schwankende Haltung aber, entgegen den verbreiteten Deutungen auf der Crampas-Li­nie, kein weiteres boshaftes, strategisches Instrument zur Verunsicherung und Einschüchterung Effis, auch wenn sie diese Wirkung auf Effi hat. Viel­mehr hat Innstetten tatsächlich eine innere Ambivalenz gegenüber dem »Werther-Chinesen«. Einerseits glaubt er, aufgrund seines gewählten Le­bensweges des gesellschaftlichen Aufstieges den Gefährdungen der »Werther-Chinesen«-Position entkommen zu sein, und kann deshalb dem Spuk mit rationaler Überlegenheit begegnen. Andererseits meldet sich be­ständig die zurückgebliebene Verunsicherung, die diese Gefährdung latent hält und ihn den Chinesenspuk doch ernst nehmen lässt. Die soeben dargelegten Funktionen und Bedeutungen, die der»Werther­Chinese« für Innstetten hat, lassen erkennen, dass Innstetten Angst vor dem Chinesen hat. Was genau aber ängstigt Innstetten am Chinesen? Es ist, kurz und zusammengefasst gesagt, die für ihn traumatische Erfahrung, selbst in der»Werther-Chinesen«-Position gewesen zu sein und das davon zurückgebliebene Grundgefühl einer unbestimmten Gefährdung, wie oben schon erläutert. Seine Warnungen, Bestätigungen und Menetekel-Be­schwörungen, die sich vordergründig an andere, Effi vornehmlich, richten, bedeuten ein ständiges Abgrenzen vom»Werther-Chinesen«- genauer: seinem»Chinesen-Imago« und deuten damit das Maß seiner inneren Ver­unsicherung und Angst an. 94 Dabei hat seine Angst zwei Richtungen. Sie bezieht sich zum einen, wie schon deutlich wurde, auf die desaströsen Fol­gen einer gesellschaftlich abweichenden oder gesellschaftswidrigen Glücksverwirklichung. Das Menetekel des Chinesen ist deshalb vor allem ein Menetekel für ihn selbst. Dabei hat er genauso viel Angst vor dem tat­sächlichen existenziellen Untergang, wie er ihn im»Werther-Chinesen« vor Augen hat, wie vor dem sozialen Untergang, den er in Ninas selbst gewähl­tem Gesellschaftsausschluss findet. Innstettens Angst vor dem Chinesen bezieht sich zum anderen aber auch darauf, noch einmal in die vormalige »Werther-Chinesen«-Position zurückzufallen. Das Luise-Briest-Dreieck war offenbar so erschütternd und tief prägend, dass sich eine dauerhafte