Heft 
(2024) 118
Seite
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Innstettens Angst vor dem Chinesen Siemsen 89 Angst vor einer Wiederholung dieser Konstellation eingenistet hat. Im »Werther-Chinesen« ist ihm diese Möglichkeit beständig gegenwärtig und macht ihm Angst, obwohl er mit der erfolgreichen Werbung um Effi glaubt, dieser prekären Konstellation 19 Jahre später entronnen zu sein und auf die sichere Briest-Kapitän-Albert-Seite des Dreiecks gewechselt zu haben. Die­sen vordergründig erfolgreichen Positionswechsel Innstettens möchte ich in den vorliegenden Deutungszusammenhang einordnen. Was bedeutet Innstettens Heirat mit der Tochter der Frau, auf die er 19 Jahre zuvor verzichten musste? Was hat das mit seinen damals durchleb­ten Enttäuschungen und Verletzungen zu tun und mit den Folgen, die sie für Innstettens weitere Lebens- und Persönlichkeitsentwicklung hatten? Dass diese Werbung um Effi und die Heirat mit ihr seltsam bis befremdlich ist, erfasst die Pastorin Niemeyer schon wenige Stunden nach der Verlo­bung, als Effi die Neuigkeit reihum ihren Freundinnen erzählt.»›Ja, ja, so geht es. Natürlich. Wenns die Mutter nicht sein konnte, muß es die Tochter sein.«(EB, S. 20) Sie bezieht ihre Missbilligung im Folgesatz zwar auf die ökonomischen Kalküle des Adels, aber mit der zitierten Äußerung trifft sie den Kernpunkt, nämlich den Wiederholungscharakter. Hier versucht jemand, ein lebensprägendes Trauma seiner Vergangen­heit durch Wiederholung einer analogen Konstellation nachträglich zu kor­rigieren und damit hinter sich zu lassen und sich von ihm zu befreien. Inns­tetten hat mit seiner gesellschaftlichen Etablierung die Ursache für seine frühere»Werther-Chinesen«-Position beseitigt, und jetzt wiederholt er die damalige Brautwerbung, so gut das eben mit den entstandenen Realitäten vereinbar ist, nämlich bei der Tochter. Nun wissen wir aus der Psychologie seit Freud, dass die Wiederholung der traumatisierenden Konstellation das Trauma nicht bewältigt, sondern schlicht wiederholt. Damit rückt das vierte und letzte Beziehungsdreieck in den Blick: Inns­tetten Effi Crampas. Innstetten wollte mit der dargelegten Wiederho­lungskonstellation das alte Trauma hinter sich lassen und die frühere angstbesetzte»Werther-Chinesen«-Position gegen die gesicherte Briest­Kapitän-Albert-Position eintauschen. Aber auch im neuen Dreieck mit Effi und Crampas verliert er die Frau an den Dritten und wird auf die»Werther­Chinesen«-Position zurückgeworfen. Diesmal ist der Grund aber nicht sein defizitärer gesellschaftlicher Status, sondern sein persönliches emotionales Defizit, in der Ehe mit Effi keine liebende Beziehung und innige Bindung zu ihr aufbauen zu können. Das Liebes- und Beziehungsversagen Innstettens wird wiederholt von Effi beklagt und vom Erzähler, der ja sonst bei Fontane möglichst unbemerkt bleiben will, außergewöhnlich deutlich kommentiert. So beschwert sich Effi beispielsweise nach Abschluss der quälenden An­trittsbesuche bei den Kessiner Adligen, den Innstetten nicht recht zu feiern weiß:»›Nur einen Kuß könntest Du mir geben. Aber daran denkst Du nicht. Auf dem ganzen weiten Wege nicht gerührt, frostig wie ein Schneemann.«