Innstettens Angst vor dem Chinesen Siemsen 91 dorf im vorletzten Kapitel, einige Jahre nach dem Duell, zeigt Innstetten in einem Zustand abgestorbener Lebensfreude und tiefer Lebensunlust, modern würden wir wahrscheinlich von Depression sprechen. Die Beförderung zum Ministerialdirektor, die mutmaßliche Krönung seiner Karriere, lässt ihn gleichgültig und er bekennt Wüllersdorf:»›ich habe mich zu freuen verlernt.[…]; nichts gefällt mir mehr; je mehr man mich auszeichnet, je mehr fühle ich, daß dies alles nichts ist. Mein Leben ist verpfuscht‹«.(EB, S. 338, 340) Innstettens oben beschriebene Angst vor dem Chinesen, genauer: seine Angst vor dem, was er im Chinesen potentiell auch für sich selbst vorgeprägt sieht, ist Realität geworden. Das Menetekel des Chinesen hat sich erfüllt, die unterschwellig stets verspürte latente Gefährdung ist zu konkreter Wirklichkeit geworden. Mit dieser eingetretenen Wirklichkeit findet Inn stettens permanente Abwehr gegen den Chinesen ihr Ende. Innstettens Lebensrealität ist jetzt auf die Seite des Chinesen gekippt. Es ist daher konsequent, dass sich auch seine Ambivalenz verloren hat. Die Illusion, den Gefährdungen des Chinesen ausgewichen zu sein, ist zerstört und damit auch die Möglichkeit, dessen Angstpotential mit einem Gestus überlegener Sicherheit wegzurationalisieren. Wenige Minuten vor dem Duell fährt er mit Wüllersdorf noch einmal am Kessiner Haus vorbei»[u]nd das Gefühl des Unheimlichen, das Innstetten an Effi so oft bekämpft oder auch wohl belächelt hatte, jetzt überkam es auch ihn selbst«(EB, S. 284). Der Chinese (Innstettens Chinesen-Imago) ist kein bezweifelbarer, irrealer Spuk mehr, er ist zu Innstettens Lebenswirklichkeit geworden. 4. Zusammenfassung Das Bild vom»Ekel« Innstetten kann nicht aufrechterhalten werden. Er ist nicht der gefühlskalte Karrierist, boshafte Manipulator und gesellschaftliche Opportunist, als der er nicht nur von der zeitgenössischen Rezeption, gegen die Fontane ihn verteidigt hat, gesehen wurde. In der Analyse der Funktion, die der Chinese für Innstetten hat, erweist er sich als ein zutiefst verunsicherter und ängstlicher Mensch, der versucht, seinen Gefährdungen auszuweichen und den jederzeit möglichen Lebensbrüchen vorzubeugen. Der Chinese ist nicht der von Crampas suggerierte Angstapparat für Effi, sondern in erster Linie Menetekel für seine eigenen Ängste und Verunsicherungen. Im Chinesen findet er sowohl die Spiegelung seines vergangenen Lebens als auch die Vorahnung seiner möglichen Zukunft. Beides ist für ihn gleichermaßen angstbesetzt. Nicht Innstetten beherrscht den Chinesen als jederzeit kalkuliert einsetzbare Manipulationsmarionette für Effi, sondern umgekehrt, der Chinese beherrscht Innstettens Existenzgefühl. Er ist das mal bewusstere, mal weniger bewusste Gravitationszentrum, um
Heft  
(2024) 118
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91
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