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Russlands Landwirtschaft und ländliche Siedlungen in der Transformation / Hans Viehrig
Entstehung
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(1) Liberalisierung und Privatisierung in der Wirtschaft von 1991/ 1994

Diese erste Transformationsphase umfasste die Jahre von 1991-1994 und war gesamt­wirtschaftlich durch gravierende Schritte in Richtung marktwirtschaftlicher Neuordnung charakterisiert. In einzelnen Elementen nahmen sie Formen einerSchocktherapie an. Im Frühjahr 1992 erfolgte eine weitgehende Freigabe der Preise für Industriegüter und Le­bensmittel, die freie Unternehmensgründung wurde erlaubt und die Privatisierung zunächst der Handels- und Dienstleistungen, später auch der Industriekombinate vorangetrieben.

In Regierungserlassen von 1990/92 waren bereits der nationalisierte Grund und Boden den Nachfolgebetrieben der Kolchosen/Sowchosen zur weiteren Verfügung im Rahmen der Umstrukturierung übergeben und die Gründung von privatbäuerlichen Betrieben(Fer­mer) erlaubt worden. Die neue Verfassung der Russischen Föderation von 1993 bestä­tigte dann das Ziel der Privatisierung des Grund und Bodens und der Betriebe in der Landwirtschaft.

Unter dem Druck der Preisliberalisierung, die 1992 schon in eine Hyperinflation umge­schlagen war, erfolgte ein dramatischer Anstieg der Faktorkosten im Agrarsektor, der viele Landwirtschaftsbetriebe in eine schwierige finanzielle Lage stürzte. Die Agrarbe­triebe waren weder strukturell, noch finanziell und produktionstechnisch dem Druck der neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen gewachsen. Zwar war die Regierungspolitik bis Ende 1994 parallel zu den Reformen noch auf eine möglichst umfassende Erhaltung der bestehenden Branchen und Unternehmensstrukturen gerichtet, verlor aber immer mehr ihre Wirkung durch das wachsende Haushaltsdefizit. Auch im Agrarsektor wurden die Subventionen drastisch gekürzt. Die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten zwangen in der Folge zu einem restriktiven makroökonomischen Stabilisierungskurs der Regierung.

(2)Scheinbare Stabilisierung 1995/1997

Die Wirtschaftspolitik der föderalen Regierung gab nun der Preisstabilität und der Konso­lidierung auf der Ausgabenseite Priorität. Trotz leichter Tendenzen zur Stabilisierung der Gesamt- und auch Agrarwirtschaft konnte die Landwirtschaft nur wenig Nutzen aus dieser Entwicklung ziehen. Die wirtschaftliche Basis der meisten Agrarbetriebe war derart erschöpft, dass sie sich kaum in der Lage sahen, Ressourcen zu mobilisieren. Schon 1993/94 war die staatliche Förderung der Landwirtschaft weitgehend den meist finanz­schwachen Regionen überlassen worden. Im föderalen Staatshaushalt sanken die Aus­gaben für die Landwirtschaft von 1994 noch 9% auf 1998 nur noch 2% des Budgets. So verblieb die Landwirtschaft Russlands in einer tiefen Krisensituation.

(3) Makroökonomische Belebung und Kurs auf Fortsetzung der Reformen ab 1999

Vorausgegangen war die tiefe Finanzkrise vom Sommer 1998, die, wie sich später her­ausstellte, zu einer Zäsur in der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands mutierte. Neben dem anhaltenden Defizit der öffentlichen Haushalte und negativen Terms of Trade-Effek­ten aus dem seinerzeitigen Verfall der Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas verursachte auch eine verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik der föderalen Regierung die Krisen­situation. Zusätzlich griffen auch Auswirkungen der großregionalenAsienkrise von 1998 auf Russland über(vgl. WELFENS 2002, S. 5 ff.; HIıSHOW 2003, S. 25). Eine Folge war die Abwertung des Rubels bzw. dieVernichtung noch vorhandener finanzieller Rücklagen von Unternehmen im Agrarsektor und von Spareinlagen der Bevölkerung. Damit erreichte die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung zunächst ihren Tiefpunkt.

Für ausländische Beobachter setzten in den Jahren nach der Krise überraschend hohe Wachstumsraten in Russlands Wirtschaft ein. Dafür wird ein vielschichtiger Komplex von

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