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Russlands Landwirtschaft und ländliche Siedlungen in der Transformation / Hans Viehrig
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5.3.3 Struktureller Wandel der Erwerbstätigkeit in den ländlichen Siedlungen

Nach ersten Veröffentlichungen der Volkszählungsergebnisse von 2002 in den Erwerbs­verhältnissen der ländlichen Bevölkerung Russlands(insgesamt 38,8 Mio.) befanden sich 21,7 Mio. Menschen im Arbeitsalter(16-55/60 Jahre), davon waren 13,2 Millionen mit einem Arbeitseinkommen(ohne Hoflandwirtschaft/Hauswirtschaft) registriert(VOPROSY STATISTIKI 2004, 1, S. 9; Ebd. 2004, 3, S. 6). Damit repräsentiert die gegenwärtig(2002) erwerbstätige Bevölkerung(ohne Schattenwirtschaft) 60,8% der Bevölkerung im Arbeits­alter. Zusätzlich(oder auch ausschließlich) konnten 12,2 Mio. Männer und Frauen die Ergebnisse ihrer Hoflandwirtschaft als Existenzgrundlage nutzen(ebenda).

In der Landwirtschaft waren 2002 7,6 Mio. Personen beschäftigt, dazu 0,3 Mio. Arbeiter in der Forstwirtschaft(VOPROSY STATISTIKI 2004, 10, S. 85).

Aus allen Informationen zur strukturellen Entwicklung der Erwerbstätigkeit(FÜLLSACK 2001, HELLER et al. 2003, WEGREN et al. 2003) ist abzuleiten, dass der Dienstleistungs­sektor(Tertiärsektor) gegenüber dem Stand von 1989/91 an Arbeitsplätzen gewachsen, der Sekundärsektor dagegen stark verloren hat. Die Verluste von Industrie und Bauwirt­schaft resultierten aus der Stilllegung von Zweigniederlassungen auswärtiger Großbe­triebe in einzelnen ländlichen Großsiedlungen und Rohstoff- bzw. Absatzproblemen der vorhandenen Kleinindustrie. Während diese Prozesse in den Getreideprovinzen Südruss­lands und in ballungsnahen Räumen in jüngster Zeit durch die Wiederbelebung der Lebensmittelindustrie tendenziell eine Umkehr erfahren haben, sieht die Prognose für eine Revitalisierung der Leichtindustrie(Holzverarbeitung, Flachsindustrie) in den zentra­len und nördlichen Teilen des europäischen Russlands wesentlich ungünstiger aus. Insgesamt sollte der Anteil des Sekundärsektors 10/15% der Erwerbstätigkeit in den ländlichen Siedlungen nicht übersteigen. Im Rahmen des Tertiärsektors erfolgte eine un­gleiche Entwicklung. Der Anteil der Personen in Bildung, Wohnungswirtschaft und Sozial­wesen ist entweder gleich geblieben oder hat sogar abgenommen, dagegen wuchsen die Arbeitsplätze im Kleinhandel stärker an. Bisherige Schätzungen gingen von einem Drittel der Erwerbstätigkeit im Dienstleistungssektor aus(einschließlich Arbeitspendler der zentrennahen ländlichen Siedlungen). In vielen Siedlungen dürfte der Anteil der in diesem Sektor tätigen Personen erheblich niedriger liegen. Die dargestellten Grundproportionen der Erwerbstätigkeit haben agrarsoziologische Untersuchungen von O BRIEN, PATSIOR­KOVSKI und DERSHEM aus den Jahren 1996/99 in drei ländlichen Siedlungen Zentral- und Südrusslands bestätigt.

Es handelte sich dabei um Ortschaften mit unterschiedlichen Lageverhältnissen und sozialem Milieu, insgesamt aber relativ nahe zu Arbeitsplatzzentren. Die Siedlung(Munizipium) Bolschoje Swiattsowo/Oblast Twer, 920 Ew. in 8 Einzelsiedlungen) befindet sich 240 km nordwestlich von Moskau im dünn besiedelten Norden der Zentralregion, aber nur 11 km vom Rayonzentrum Torshok entfernt. Die beiden anderen Siedlun­gen haben ihren Standort in südrussischen Schwarzerderegionen: das Dorf Wengerowka/Oblast Belgorod (1010 Ew.), 77 km von der Gebietshauptstadt Belgorod entfernt, sowie Latonowo/Oblast Rostow/Don, relativ nahe zur Großstadt Taganrog gelegen. In statistischer Summierung der Erwerbspersonen arbeiteten 1991 86% im Agrarsektor und die verbliebenen 14% in Bildung, Kultur und Sozialwesen.(O BRIEN 2002, S. 170 ff.). Schon 1993 wurde ein Anteil von 6% in neuen privaten Tätigkeiten registriert, vor allem im Kleinhandel, Bau- und Transportwesen, im Einzelnen auch als Fermer. Im Jahre 1999 wurden dagegen nur noch knapp 51% der Erwerbstätigen der drei Dörfer im Agrarsektor festgestellt. Der Anteil derjenigen, die als ihre Haupttätigkeit(Einkommen) die Arbeit in ihrer Hoflandwirtschaft(LPH) angaben, stieg von< 1%(1991) auf 23%(1999). Halbiert hatte sich die Zahl der höher qualifizierten Agrarfachleute in den Dörfern. Agrono­men, Agraringenieure und Veterinäre hatten oft bis 1999 ihre ursprüngliche Tätigkeit aufgegeben oder teilweise in kleinen privaten Unternehmen in und außerhalb ihres Wohnorts aufgenommen(ebenda, S. 170 f.). Im Ergebnis der Studie nahm der Anteil der Arbeitspendier mit Wohnsitz in den Orten ab. Im Falle von Wengerowka(2 Busstunden von Belgorod) sank ihr Anteil von 1993 6% auf 1997 1% und in Bolschoje Swiattsowo(11 km vom Kreiszentrum Torshok/70 000 Ew. entfernt) von 3% auf 2%(O BRIEN et al. 2000, S. 66f.).

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