Im Verein mit den schon publizierten Volkszählungsergebnissen von 2002 legen die Fallbeispiele die Einschätzung nahe, dass trotz beachtenswertem Anstieg der Erwerbstätigkeit im Dienstleistungssektor der Agrarbereich in der Gesamtheit von noch vorhandenen Großbetrieben, privaten Bauernwirtschaften(Fermer) und dem nicht überschaubar hohen Anteil von Hoflandwirtschaft(Hauswirtschaft) die wichtigste wirtschaftliche„Säule“ in den typischen russischen ländlichen Siedlungen geblieben ist, deren Entwicklung im Transformationsprozess vielfach über die existentielle Perspektive der Siedlungen selbst und die Lebensgrundlagen der Menschen dort entscheidet. Eine wichtige existentielle Grundlage der Dorfbevölkerung werden noch lange Zeit auch die staatlichen Sozialtransfers bleiben.
5.4 Entwicklungsprobleme der sozialen Infrastruktur in den ländlichen Siedlungen
Trotz verschiedener Entwicklungsprogramme für den ländlichen Raum war es in der Sowjetzeit nicht gelungen, viele grundlegende infrastrukturelle Probleme der ländlichen Siedlungen zu beheben, obwohl gerade unter der Präsidentschaft Gorbatschows umfangreiche Investitionen in den Hauptsiedlungen getätigt worden waren. Noch 1991 wurde regierungsseitig ein Programm„Wiedergeburt des Russischen Dorfes“ beschlossen, dessen Hauptbestandteile(Wohnungsbau, Schul-, Straßenbau, Kanalisation etc.) bei ständigem Rückgang der Finanzierung nur zu geringen Teilen bis 1995 verwirklicht werden konnten(OVCINCEVA 2001, S. 1308). Mit dem Ziel der Anpassung der Strukturen im Dorf an marktwirtschaftliche Bedingungen hatte die Regierung der Föderation schon Ende 1991 den Landwirtschaftsbetrieben empfohlen, die Einrichtungen der sozialen Infrastruktur, die bisher insgesamt von den Kolchosen/Sowchosen im Dorf getragen worden waren, in kommunales Eigentum zu überführen. Parallel dazu erhielten die Kommunen mit der schrittweisen Einführung der kommunalen Selbstverwaltung ab 1991/93 einen eigenen neuen Rechtsstatus, verbunden mit der Schaffung neuer Rechtsinstitutionen wie dem kommunalen Eigentum, dem kommunalen Haushaltsbudget und der Planungskompetenz. Die extreme Unterfinanzierung ländlicher Kommunalhaushalte führte im Verlaufe der 90er Jahre aber dazu, dass weder viele Gemeindeverwaltungen, noch die in Bankrottnähe befindlichen Landwirtschaftsbetriebe den Unterhalt der sozialen Einrichtungen im Dorf tragen konnten. Die betreffende Sachlage variiert von Gemeinde zu Gemeinde je nach Finanzsituation der Kommune bzw. der örtlichen Betriebe. In manchen Landgemeinden erfolgte die Übernahme der Sozialeinrichtungen durch die Kommune nur formal, in ihrer wirtschaftlichen Zuordnung blieben sie beim Landwirtschaftsbetrieb (ebenda, S. 1311). Oft wurden von den Beteiligten im Reorganisationsprozess neue rechtliche Konstruktionen gemeinsamer Zuständigkeit für einzelne Objekte wie Schule, Kindergarten, zentrale Wasserversorgung und Gasnetz gefunden(LINDNER 2003, S. 23). Einrichtungen des sozialen Bereichs auf dem Dorfe gingen zunehmend zur kostendeckenden Rechnungsführung über, so dass auch die Nachfrage seitens der oft unter dem Existenzminimum finanziell versorgten Dorfbewohner nach bezahlungsnotwendigen Dienstleistungen gesunken ist(OVCINCEVA 2001, S. 1309). In den letzten Jahren ist der Kostendruck auf die Dienstleistungspreise gestiegen, dem sich auch die Kostenträger für die kommunalwirtschaftliche Versorgung des Dorfes(Elektrizität, Gas, Fernwärme) nicht entziehen konnten. Allein im Jahre 2001 stiegen in Russland die Tarife für wohnungswirtschaftliche Dienstleistungen um 56%, darunter besonders für den Einsatz von Gas, Kohle und Strom(KOLESNIKOVA 2004, S. 75). Dabei nahm um das Jahr 2000 in der Ausgabenstruktur der ländlichen Haushalte die Bezahlung von wohnungswirtschaftlichkommunalen Diensten schon zwischen 40-50% der Ausgabenbudgets ein(OVCINCEVA 2001, S. 1310). Bei dem niedrigen Einkommensniveau und der herrschenden Massenarmut auf dem Lande ist die bezahlbare Sicherung der Daseinsgrundbedürfnisse über ein funktionsfähiges System von Dienstleistungen auf dem Dorf nach wie vor ein ungelöstes
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