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Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg / von Eugen Wolbe
Entstehung
Seite
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Neunzehntes Kapitel.

Kultureller Aufstieg.

Ende der dreißiger Jahre dämmert eine Epoche gewal­tigen wirtschaftlichen und kulturellen Aufstiegs herauf. Im Zeitalter der Maschinen vollzieht sich der Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat. Ein Netz von Eisenbahnen läßt die Entfernungen gering werden. In den Städten schießen die Fabriken wie Pilze aus der Erde. Der Bauern­sohn vertauscht Pflug und Dreschflegel mit Hobel und Schraubstock. Er begehrt seinen Anteil an den Gütern des Stadtlebens in Kleidung und gewissem Luxus. Der Händler, der bisher mit demPäckele hausieren ging, wandelt sich in den modischen Kaufmann. Im Rahmen der übrigen Be­völkerung setzt auch bei den Juden die Landflucht ein. Dem­gemäß verstummen die Klagen über Benachteiligung der ländlichen Gutsbesitzer durch den Spekulanten. Wenn es Figuren wie Freytags Veitel Itzig gegeben hat, so verschwin­den sie jetzt. Die Stadt bietet dem Juden neue Entfaltungs­möglichkeiten. Der regere Verkehr mit der christlichen Um­welt hebt ihn kulturell. Seine Kinder besuchen die höheren Schulen. Die Assimilation vollzieht sich. Juden arbeiten in den städtischen Körperschaften und in den interkonfes­sionellen Wohltätigkeits- und Bildungsvereinen. Jüdische Ärzte, Rechtsanwälte, Bankherren und Händler gewinnen sich das Vertrauen der Bevölkerung in Stadt und Land.

Dank ihrer leidlich gesicherten Existenz können die Juden ihre Kräfte nunmehr auch für die kulturelle Weiter-

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