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Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg / von Eugen Wolbe
Entstehung
Seite
271
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praktischer Hinsicht irgend eine Autorität, ein Messias, der die Israeliten nach Palästina zurückführt, wird von uns weder erwartet noch erwünscht. (Unser Geburtsland ist unser alleiniges Vaterland.)

Viel umstritten waren auch die kunstvollen Piutim (Fest­gebete), die den Gottesdienst in die Länge zogen und die nur wenige verstanden. Da nur der Kenner ihnen Wert beimaß, wurden sie mit der Zeit aus dem Gebetbuch ausgemerzt. Mit der Orgel, als einem von der Umwelt ent­lehnten Instrument, vermochte sich die Orthodoxie bis auf den heutigen Tag nicht zu befreunden. Dagegen erblickt der liberale Jude in ihr ein Hauptmittel zur Erweckung und Vertiefung der Andacht.

Unter der Devise:Wir wollen Glauben wir wollen positive Religion wir wollen Judentum schlossen sich in Berlin Sigismund Sterns Anhänger (1845) zu einerReform­gemeinschaft zusammen. In einem AufrufAn ganz Israel forderten sie die Einberufung einer Synode zwecks Schaf­fung einer neuen jüdischen Religion. Der Beersche Tempel lebte wieder auf, als die Reformer im Jahre darauf ihr Gotteshaus, in der Johannisstraße 16, einweihten. Losgelöst vom Zeremonialgesetz, in welchem sie das größte Hindernis für die Entwicklung des Judentums zu einer Religion des gebildeten Gottsuchers erblickten, zogen sie einen Strich unter die Vergangenheit. Das Hebräische wich dem Deut­schen als Sprache des Gebets; der Sabbatgottesdienst fand am Sonntag statt, um denjenigen Juden, denen der bürger­liche Werktag die Sabbatfeier erschwerte, Gelegenheit zur Anhörung der Thoravorlesung und der Schriftauslegung zu geben. Eine Zeitlang veranstaltete die Reformgemeinde auch Gottesdienste am Sonnabend, doch mußten diese aus Mangel an Besuchern bald unterbleiben. Wenn sie auch die Formen ihrer Gottesverehrung der Landeskirche entlieh, so lehnte doch die Reformgemeinde die Auffassung, als sei sie nur