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Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg / von Eugen Wolbe
Entstehung
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eine Durchgangsstation zum Christentum, mit Entschieden­heit ab; empfand sie doch einen in den ersten Jahren in ihrem Schoße erfolgten Übertritt als ein Unglück für die ganze Gemeinde. In ihrem Streben nach restlosem Aufgehen im Volkstum der Umwelt gönnten sie dem Palästinagedan­ken und der Messiashoffnung in ihrem Denken und Beten keinen Raum, sprachen sie dem Talmud jede verpflichtende Kraft ab.

Der Prediger, den sich die neue Reformgemeinde wählte, Samuel Holdheim, ein ehemaliger Talmudjünger aus Kempen in Posen, damals Landesrabbiner von Mecklenburg- Schwerin, ging über die Forderungen Geigers und der übrigen Neuerer weit hinaus. Unter völligem Bruch mit dem rabbinischen Judentum, ließ er nur die allgemein-reli­giösen Prinzipien der Thora gelten. An Stelle der vermeint­lich nur für den altjüdischen Staat erlassenen Gesetze for­derte er den Vorrang des Staatsgesetzes vor dem Religions­gesetz: wenn also die Regierung den Sonntag zum wöchent­lichen Ruhetag bestimmt, so ist das Judentum zur Verlegung ihres Sabbats auf diesen christlichen Ruhetag verpflichtet! Holdheim war zu wenig historisch geschult, um zu wissen, daß Juden und Christen ursprünglich gemeinsam die Sab­batfeier am Sonnabend begingen und daß erst das Konzil von Nicäa (336) den christlichen Ruhetag auf den Sonntag verlegte; deshalb begeht die Sekte der Adventisten ihren Sabbat am Sonnabend, als an dem von Gott eingesetzten Ruhetage. Träger des Staates ist nach Holdheim die Nation, folglich kann sich der Jude nur zum Volkstum der Bevölkerung bekennen, in deren Mitte er lebt.

Da Holdheim die Zukunft des Judentums nicht in den Bereich seines Denkens zog, billigte er die rabbinische Ein­segnung von Mischehen, auch ohne die Verpflichtung der Eheleute zur jüdischen Erziehung ihrer Nachkommen. Den Messias kennzeichnete er alsmessianisches Zeitalter, als

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