seins“ als eine Selbsttäuschung. Das erregte bei den Gemeindebehörden, die einer vollständigen Assimilation der deutschen Juden das Wort redeten, arge Mißstimmung.
Ein Gelehrtenstreit drohte an die Ehre des Judentums zu rühren, weil er sich zu einer Aburteilung der Thora aus- wuchs. In Berlin hielt nämlich im Winter 1902 der Berliner O rientalist Friedrich Delitzsch einen Vortrag, „Bibel-
Babel“, in welchem er den Nachweis zu erbringen suchte, daß Mosis Gesetzgebung von dem kurz zuvor aufgefundenen Gesetzbuch des assyrischen Königs Hammurabi abhängig sei, mithin die Thora der Originalität entbehre. Kaiser Wilhelm II., der dem Vortrage beiwohnte, prägte in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Briefe an den ihm freundschaftlich nahestehenden Admiral Hollmann das Wort: „Es schadet nichts, wenn von dem Nimbus des auserwählten Volkes viel verloren geht.“
Nichts ging von diesem „Nimbus“ verloren. Es erschien eine Flut von ernsten wissenschaftlichen Schriften gegen die Behauptung von Delitzsch. Das war alles. Für die Wertschätzung der Bibel blieb die Alternative „Hie Moses — hie Hammurabi“ ebenso belanglos wie später der Nachweis, den der Berliner Ägyptiologe Erman von der Abhängigkeit der Sprüche Salomonis von einem altägyptischen Totenbuch erbrachte. Erfreulicherweise begannen sich nunmehr auch religiös gleichgültige Juden mit den wissenschaftlichen Belangen ihrer Religion zu beschäftigen.
In Berlin liefen die Fäden des gesamten kulturellen Lebens der deutschen Juden zusammen. Der (1903 gegründete) „Hilfsverein der deutschen Juden“ übernahm die Fürsorge für die Opfer plötzlich über die Juden in anderen Ländern hereinbrechender Katastrophen, Beratung und Unterstützung auswandernder Glaubensgenossen, in ständiger Fühlungnahme mit den entsprechenden Organisationen in anderen Ländern. Der „C.-V.“ kämpfte auch weiterhin für
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