Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
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Einleitung.

Die menschliche Bequemlichkeit neigt stets zum Ent­wederOder, es ist daher begreiflich, dass man an­nahm, der Mensch sei entweder gesund oder geistes­krank. Bis zum Beweise des Gegentheiles wurde Jeder für gesund gehalten, war Einer aber einmal für geisteskrank erklärt, so schied er aus der menschlichen Gesellschaft aus, wurde sozusagen in eine andere Classe versetzt. Ein grosser Teil der Juristen steht jetzt noch auf diesem Standpuncte. Man hätte sich von vornherein sagen können, dass, da doch nirgends in der Natur Sprünge vorkommen, auch zwischen Ge­sundheit und Geisteskrankheit keine scharfe Abgren­zung anzunehmen sei. Man hätte bei unbefangener Be­obachtung ohne besondere Vorkenntnisse die Zwischen­formen erkennen und sich davon überzeugen können, dass nicht nur oft der Gesunde erst ganz allmählich zum Geisteskranken wird, sondern auch zwischen den ganz Gesunden und den ganz Kranken eine überaus grosse Menge zu finden ist, bei der Gesundes und Krankes vermischt ist, Leute, bei denen einzelne krank­hafte Züge unverkennbar sind. In Wirklichkeit jedoch wuchs die Erkenntniss ausserordentlich langsam, und trotz der Zugänglichkeit des Materials hat man bis zur neuesten Zeit recht bescheidene Fortschritte ge­macht.

Auch die sogenannte ärztliche Wissenschaft konnte in dieser Angelegenheit nicht gerade viel leisten. Ent­sprechend der Theilung des Menschen in Leib und Seele überliess man in früheren Zeiten den Leib den Aerzten, wies die kranke Seele denSeelenärzten zu,