Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
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Die späte Entwickelung der Psychiatrie.

d. h. Geistlichen und Philosophen. Deshalb ist die Psychiatrie der jüngste Zweig der Medicin, ein Spät­ling, dem man nicht zum Vorwurfe machen sollte, dass er noch nicht ausgewachsen ist. Als man end­lich an Stelle der alten Tollhäuser Krankenhäuser für Irre unter ärztlicher Aufsicht errichtete, wurde die Ab­sonderung der Irrenärzte wieder ein Hinderniss. Sie hausten in ihren klosterähnlichen Anstalten, wurden oft weltfremd, und es bildete sich vielfach die Meinung, als gäbe es nur in den Irrenanstalten geistige Stö­rungen, während doch nur die am Schlimmsten Er­krankten und die Störendsten aus der Gesellschaft ausgeschieden und in das Irrenhaus gebracht werden. Andererseits blieb bis in die neueste Zeit die grosse Zahl der Aerzte von allen psychiatrischen Kenntnissen verschont. Nicht nur fehlte es auf den Universitäten meist an Gelegenheit zum Unterrichte über geistige Störungen, sondern der ganze Geist der medicinischen Erziehung hinderte die Schüler, das Seelische verstehen zu lernen, ein plumper Materialismus behandelte alles Geistige als quantite negligeable. Neuerdings hat man zwar fast überall psychiatrische Kliniken eingerichtet, aber noch fehlt die Nöthigung der Studenten, diese Kliniken so, wie es nothwendig wäre, zu besuchen, noch fehlt vielfach die Einsicht, dass der Arzt überall, nicht nur in der psychiatrischen Klinik, das Geistige ins Auge fassen muss, dass ein psychiatrischer Sinn in jeder Klinik von Nöthen ist.

Dass trotz aller Schwierigkeiten auch die ausser­halb der Irrenhäuser vorkommenden geistigen Stö­