Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
18
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Einleitung.

DL He- ni

sind leidenschaftliche Erregungen selten, und sie dienen als Sicherheit-Ventil, ihre Explosion beseitigt die Spannung, reinigt den Organismus, schädigt ihn nicht. Ein wirklich gesunder Mensch wird nie durch Leiden­schaften oder Gemüthserschütterungen geisteskrank werden, denn die gesunde Natur wehrt sich gegen das Uebermaass, stösst das Traurige, Feindliche hin­aus, wie der Körper einen eingedrungenen Splitter. Leute wie Tasso, Rousseau, Lenz, Hölderlin u. s. w. wurden nicht krank, weil sie zu viel zu erdulden hatten, sondern sie regten sich viel auf, weil sie krankhafter Art waren, und ihre krankhaften Erregungen führten sie in die wirkliche Krankheit hinüber.

Die Kluft zwischen der herkömmlichen dichterischen Auffassung und der wissenschaftlichen Betrachtung ist jedoch nicht so gross,- wie man nach dem Bis­herigen annehmen möchte. Der gesunde Mensch nem­lich ist ein;Ideal: Wir alle sind nicht vollkommen ge­sund, sind in gewissem Grade entartet, und wenn wir von gesunden und krankhaften Menschen reden, so handelt es sich eigentlich nur um Grad-Unterschiede. Nicht auf das Vorhandensein, sondern auf den Grad der Entartung kommt es an. Dazu tritt ein Anderes: der gesunde Mensch ist langweilig. Der Normal­mensch darf keine besonderen Eigenschaften haben, denn jedes Uebermaass zerstört das Gleichgewicht, und es giebt keine Hypertrophie ohne entsprechende Atrophie. Wie Hörner nicht möglich sind ohne Be­einträchtigung der Schneidezähne, so muss der vor­wiegenden Gehirnentwickelung, die wir am Menschen