Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
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Die problematischen Naturen.

schätzen, ein anderweites Minus entsprechen. Je feiner und verwickelter ein Organ wird, um so verletzlicher wird es. Hervorragende Tüchtigkeit ist nicht ohne Einseitigkeit möglich, Einseitigkeit ist Abnormität, und so fort. Was uns reizt, ist das Ungewöhnliche, das von der Regel Abweichende, das Abnorme, und deshalb sind jederzeitdie problematischen Naturen Gegenstand der Dichter gewesen. Mit anderen Worten, der Dichter fühlt sich von selbst zum Pathologischen hingezogen, sofern wie ihn die Menschen mehr inter­essiren als die Ereignisse. Je mehr der Dichter ein treuer Spiegel der Wirklichkeit ist, eine um so grössere Rolle wird bei ihm das Pathologische spielen. That­sächlich beweist die Beobachtung diesen Satz, denn Shakespeare und Goethe haben die meisten patho­logischen Figuren. Erst dadurch, dass der Dichter das treu Beobachtete im Sinne vorgefasster Meinungen be­arbeitet, kann der Zwiespalt zwischen dichterischer und wissenschaftlicher Auffassung entstehen. Die Sache liegt so. Je abnormer oder krankhafter ein Mensch be­schaffen ist, um so weniger findet bei ihm eine nor­male Motivation statt. Je mehr die Krankheit wächst, um so mehr schwindet die normale Motivation, oder, was dasselbe ist, die psychologische Freiheit. Bei einem gewissen Grade der Krankheit hört sie. ganz auf, der Mensch wird dann unfrei oder unzurechnungs­fähig. Er denkt und handelt dann unter einem orga­nischen Zwange, er ist psychologisch nicht mehr ver­ständlich. Ein solcher Mensch ist nicht nur dem Strafrechte entzogen, sondern auch der Poesie. Denn