Die dichterische Verwerthung von Geisteskranken.
des Durchschnitt-Menschen mit seinen pathologischen Beimischungen fest zu halten, und man wird auch bei ausgesprochen pathologischen Menschen einen gewissen Grad von Zurechnungsfähigkeit annehmen. Wir thun es alle, müssen es thun, wenn wir leben wollen, und ebenso darf es der Dichter thun.
Das Gesagte sei an einigen Beispielen erläutert. Shakespeare bringt im König Lear einen Geisteskranken auf die Bühne, der an Altersschwachsinn leidet, und dessen Zustand sich während des Stückes zu acuter Verwirrtheit steigert. Lear ist unzurechnungsfähig und kann deshalb nicht Held der Tragödie genannt werden. Er ist einer Naturgewalt zu vergleichen, und die durch ihn Leidende und Sterbende, Cordelia, ist eigentlich allein eine tragische Figur. Hamlet dagegen ist zwar ein pathologischer Mensch, aber er ist nicht geisteskrank, und seine Zurechnungsfähigkeit ist in der Hauptsache erhalten. Alles, was er thut, ist psychologisch vermittelt, der Zuschauer kann mit ihm denken und fühlen, wenn er auch bewusster- oder unbewussterweise einen Vorbehalt macht und, juristisch ausgedrückt, mildernde Umstände annimmt.
Goethe hat besonders im Werther eine pathologische Gestalt geschaffen, deren Zurechnungsfähigkeit zwar eingeschränkt, aber doch in der Hauptsache erhalten ist.—
Goethe ist auch darin, wie die meisten Dichter, „Psychiker“, dass er die einzelnen Erscheinungen der Geistesstörungen psychisch vermittelt sein lässt. Dies zeigt sich z. B. bei seiner Besprechung der Ophelia