Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
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Einleitung.

Am gröbsten tritt es hervor in dem Stück Lila, wo die Heldin durch seelische Einwirkung geheilt wird. Hier folgte Goethe freilich einem älteren Muster, je­doch war ihm offenbar die Sache nicht anstössig. In der Wirklichkeit zeigt gerade der Umstand, dass beim Geisteskranken die Symptome und auch die Heilung nicht motivirt sind, die organische Natur der Geistes­störungen und ihre dichterische Unverwerthbarkeit an. Es kann zwar in der Wirklichkeit vorkommen, dass Einer, der an Verfolgungswahn erkrankt, Verfolgungen erlitten hat, wie es bei Rousseau der Fall war, aber weitaus die meisten Patienten sind nie verfolgt worden, wir wissen einfach nicht, warum gerade Verfolgungs­vorstellungen so häufig Zeichen einer Gehirnerkrankung sind. Nur bei Einer Krankheit sind alle Erscheinungen seelisch vermittelt, und kann jede Erscheinung durch seelische Einwirkungen beseitigt werden, bei der so­genannten Hysterie, die keine eigentliche Geisteskrank­heit ist. Man könnte in gewissem Sinne die Hysterie als Dichter-Krankheit bezeichnen, denn hier verlaufen die Dinge ungefähr so, wie es sich die Dichter ge­wöhnlich vorstellen. Man ist bei poetischen Krank­heit-Schilderungen oft versucht, die Diagnose Hysterie zu stellen, obwohl der Dichter daran ganz unschuldig ist. So wäre bei Lila und bei Orest nur die Diagnose Hysterie zulässig.

Inwieweit hatte Goethe Gelegenheit, krankhafte

Geisteszustände kennen zu lernen? Mir scheint die