Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
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Das Taedium vitae als Kern.

in Pessimismus umschlägt.Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen und der Schau­platz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: das ist! da alles vorübergeht? Diese Worte sind vollkommen im Sinne Buddhas. Das Tae­dium vitae ist die Unterlage, der Liebeskummer führt zur That. Man hat kaum das Recht, zu sagen, Goethes Werther sei überhaupt nicht lebensfähig, sein Tod sei nothwendig. Wäre Werther durch irgend ein günstiges Eingreifen über die Zeit der Gefahr weggehoben worden, so hätte er ruhig weitergelebt, wäre freilich!immer pathologisch geblieben. Unzählige junge Leute gleichen Werther in der Hauptsache, kommen aber nicht zum Selbstmorde, weil im geeigneten Moment ein genügend kräftiger Anstoss fehlt.

Werther ist ein d&genere superieur, eine weitere Diagnose ist nicht zulässig. Insbesondere wäre es verfehlt, seinen Zustand als Melancholie zu be­zeichnen.

Als Contrastfigur erscheint im Werther der junge Wahnwitzige, dessen Schilderung deshalb merkwürdig ist, weil eigentlich hier allein Goethe eine Geisteskrank­heit nach der Natur beschreibt. Das Vorbild war der junge Rechtscandidat, der in Goethes Vaterhause lebte, und dessen Geschichte Goethe natürlich bekannt war. Der Rath Goethe benutzte sein verblödetes Mündel als Secretär, im Roman ist der Geisteskranke Secretär bei Lottens Vater gewesen. Die romanhafte Zuthat ist die Angabe, dass der junge Mann eine Leidenschaft