Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
58
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Lila.

jeder Post neue Briefe, glaubte, diese würden von den Angehörigen unterschlagen.Wenn ich sagen soll, so glaube ich, das ihr Wahnsinn schon damals ihren [sic] Anfang genommen hat; aber wer unterscheidet ihn von der tiefen Melancholie, in der sie begraben war? Endlich kommt ein Brief, der Baron sei todt. Lila verfällt inein hitziges Fieber, das einige Tage dauert. Danach ist sie scheu, unsicher, verschlossen, verlangt Trauerkleider, behängt sich mit allen schwarzen Stoffen, die sie erlangen kann. Die Umgebung suchte zu trösten, die Nachricht sei ungewiss; das machte aber gar keinen Eindruck auf die Kranke, die jedermann zu fürchten oder gar nicht zu bemerken schien.Seitdem ihr die Phantasieen den Kopf verrückt haben, traut sie niemand, hält ihre Freunde und Liebsten, sogar ihren Mann, für Schattenbilder und von den Geistern untergeschobene Gestalten. Ihre Schwester blickt sie lange an, bald ernsthaft, bald wieder freundlich, und sie verlässt sie schliesslich mit einer Art von Widerwillen. Als der Baron genesen zurückkehrt, flieht sie ihn wie ein Ge­spenst. Man überlässt sieder unmenschlichen Be­handlung eines Marktschreiers.*) Nach kurzer Zeit geräth sie in Wuth und versteckt sich im Walde. Als die Versuche sie herauszubringen vergeblich. sind, lässt der Baron ihr heimlich eine Hütte zurechtmachen, in der sie sich bei Tage verbirgt, und wohin ihr ein

*) Mir schauderts, sagt a. a. St. der Baron, wenn ich an die Curen denke, die man mit ihr gebraucht hat, und ich zittre zu was für weitern Grausamkeiten gegen sie man mich verleiten wollte, und fast verleitet hätte,