Iphigenie.
Noth gehen, und gewiss soll Iphigenie eine Vertreterin reiner Menschlichkeit sein, aber magisch kann diese auch nicht heilen. Die Einwirkung muss doch motivirt sein. Die Freude über die wiedergefundene Schwester kann das Motiv nicht sein, denn Orest freut sich gar nicht. Erst hält er Iphigenien für eine Betrügerin, dann fasst ihn das Entsetzen über den Gedanken, dass die Schwester als Priesterin den Bruder tödten werde. Aus dem Entsetzen geräth er in die Bewusstlosigkeit, aus dieser erwacht er geheilt. Wenigstens drücken die ersten Worte schon, die er mit freiem Bewusstsein spricht, das Wissen der Heilung aus. Man müsste also annehmen, dass ihn während der Worte des Pylades, Schwester und Freund seien leibhaftig da, die Freude ergreife und heile. Aber diese Auffassung lässt sich mit dem Worte, die Berührung Iphigeniens habe Orest geheilt, nicht vereinigen. Eigentlich sollte man meinen, erst dann, wenn Orest den ganzen Zusammenhang durchschaut, wenn er einsieht, dass doch gütige Götter ihn leiten und einen glücklichen Abschluss vorbereiten, erst dann sollte die Erkenntniss der göttlichen Gnade ihn von der Angst befreien.
Es fragt sich also, wie Goethe dazu gekommen ist, die etwas gewagte Heilung des Orest zu schildern. Bekanntlich existirt darüber schon eine ganze Literatur. Meine Bemerkungen haben zu ihrer Vermehrung beigetragen. K. Heinemann hat seine Auffassung im Goethe-Jahrbuche(XX.) dargelegt, und ich habe darauf in meiner„Stachyologie“*) erwidert. Auf diesen Auf
*) Ueber die Heilung des Orest. Stachyologie. p. 97. 1901