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Zeit aus muss man Goethe entschuldigen. Wahrscheinlich würde manches Medicinal-Collegium, dem man die Acten des Goethischen Tasso vorgelegt hätte,‘ im Jahre 1790 den Inculpaten für zurechnungsfähig gehalten haben. Auch ist mir nicht bekannt, dass Jemand Goethe auf die Bedenklichkeit der Verfolgungsvorstellungen aufmerksam gemacht hätte, Heinroth freilich(im Jahre 1820) zählt Goethes Tasso zu den „Wahnsinnigen“(irrthümlicherweise, nämlich im Sinne seines Systems), aber er macht keine weiteren Bemerkungen. Gerade die Form der Geisteskrankheit, an der Tasso litt, ist recht spät richtig beurtheilt worden. Freilich bei der Schilderung Serassis konnte gegenüber der Fülle der Hallucinationen u. s. w. wohl zu keiner Zeit ein Zweifel über die Geistesstörung bestehen, aber in den Fällen, in denen wie bei Goethes Tasso nur Verfolgungsvorstellungen geäussert werden, nahm man früher oft die Sache leicht. Dass Rousseau, an den Goethes Tasso erinnert, geisteskrank war, wussten die Einsichtigeren seiner Zeitgenossen, aber man verkannte später die Schwere der Erkrankung, stellte sich etwa vor, es habe sich um einige„fixe Ideen“ gehandelt, die wie Unkraut auf einem sonst gesunden Beete aufwüchsen. Aehnlich mag es Goethe mit Tasso ergangen sein; es konnte seinem Scharfblicke nicht entgehen, dass sein Tasso eine„pathologische“ Figur war, aber er hielt dafür, man bewege sich da auf einem Grenzgebiete, auf dem ebenso wie im Reiche der Leidenschaften die normale Psychologie herrsche, und das der poetischen Verwerthung zugänglich sei.