Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
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Leidenschaften sind Seelenleiden.

rückgedrängt werden, kommen bei Mangel der Be­sonnenheit zum Vorscheine. Auch vollkommen züch­tige Mädchen haben von den Angelegenheiten der Liebe mancherlei gehört und wissen, dass sie das Wichtigste im weiblichen Leben sind; je reiner sie sein möchten, um so mehr haben sie sich bemüht, ihrer Phantasie die Beschäftigung mit dem Sinnlichen zu untersagen, und um so leichter wird im Delirium das Verbotene Gegenstand des Denkens sein. Diese Thatsache kann Shakespeare sehr wohl bekannt ge­wesen sein, und es ist durchaus nicht nöthig, dass er Ophelien für sinnlicher als ein anderes Mädchen habe ausgeben wollen.

Ebenso wie Ophelia durch Gemüthsbewegungen krank wird, erscheint die Leidenschaft bei Goethe als Ursache geistiger Störungen überhaupt. Bei jeder leidenschaftlichen Erregung könne man sich eine Steigerung vorstellen, wo die Leidenschaft in Wahn­sinn umschlägt. So spricht Goethe von seinen eigenen Leidenschaften an verschiedenen Stellen. Werther sagt,meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahn­sinn. Besonders deutlich tritt diese Auffassung in einer Aeusserung Jarnos zu Tage. Dieser sagt(als Montan in den Wanderjahren), Wilhelm habe sich bis­her mit der Heilung von Seelenleiden beschäftigt, er solle lieber Chirurgie treiben, denn zu jener vermöge der Verstand nichts, die Vernunft wenig, nur die Zeit viel, entschlossene Thätigkeit alles. Nun hat sich bekanntlich Wilhelm durchaus nicht mit Psychiatrie beschäftigt, wenn man von seiner Theilnahme für