Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
235
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Goethes Mutter.

bedeutenden Augen, dem strengen Herrscherblicke und der sehr hohen, mächtigen Stirn, bei dem man unwill­kürlich an das Bild des Enkels denkt, beweist, dass sie ein ungewöhnliches Weib war.

Goethes Mutter ist uns durch die Schilderung des Sohnes, durch ihre Briefe und neuerdings durch Heine­manns schönes Buch nahe gerückt. Gab der Vater den tüchtigen festen Grund des Geistes unseres Dichters, so wurde dieser doch erst durch die von der Mutter ererbten Eigenschaften zum Dichter. Ueber­aus warme Empfindung und Phantasie, Frohmuth und unbesiegbare Lebensfreude sind die wichtigsten Ge­schenke, die sie ihm gab. Wie ich anderweit nach­gewiesen habe, erbt man gewöhnlich die meisten Kunst­Talente vom Vater, den Dichtergeist aber von der Mutter. Das stimmt auch bei Goethe. Ihre Urtheilskraft über­stieg weit das Mittel, aber hier ist die Vergleichung mit des Sohnes Geiste misslich, denn der Geist ist im weiblichen Organismus doch wie verkleidet, und wir würden bei den Müttern grosser Männer nicht viel prophezeien können, wenn wir die Söhne nicht schon kennten. Das Pathologische war auf jeden Fall bei der Frau Rath verhältnissmässig gering.

Wir mögen uns anstellen, wie wir wollen, die Hauptsache bleibt ein Räthsel, eineAbleitung Goethes aus seinen Eltern gelingt nicht, und nur ein geheim­nissvolles Zusammentreffen günstiger Umstände kann den günstigen Erfolg gehabt haben. Dass es nicht auf die Theile an sich, sondern auf die richtige Zu­sammenstellung der Theile ankam, das zeigt In über­