20 Europäische Aufklärung und Haskala
anschauliche, philosophische und religiöse Positionen vertreten.
3) Die Haskala war eine vielstimmige Aufklärung. Vielstimmig war sie vor allem in bezug auf die Frage, ob überhaupt und inwieweit die jüdische Religion, d.h. die rabbi- nische Tradition des Judentums, verändert und den neuen Erkenntnissen, der modernen Bildung, der bürgerlichen Kultur und den staatsbürgerlichen Anforderungen angepaßt werden sollte. In ihrem Verhältnis zur rabbinischen Tradition fand die Haskala keinen religiösen Konsens, aber gerade in diesem Punkt ist das Judentum der Moderne der religiösen Vielstimmigkeit der Haskala gefolgt und treu geblieben: Seit der Aufklärungszeit existieren verschiedene religiöse Gruppierungen im Judentum nebeneinander, die Haskala steht am Beginn der religiösen Plu- ralisierung des modernen Judentums.
Das Einigende in ihrer religiösen und weltanschaulichen Vielstimmigkeit war dennoch der Umstand, daß sich die Protagonisten der Haskala in Preußen, wo die Haskala als Aufklärungsbewegung begann, alle kannten, daß sie die gleichen Diskriminierungen in Staat und Gesellschaft erfuhren und vor allem, daß sie alle als Juden Aufklärer sein wollten. Dieses Selbstverständnis, zugleich Aufklärer sein zu wollen, dabei jedoch Jude zu bleiben, bringt Universales und Partikulares, Aufklärung und die jüdische Existenz als Angehöriger einer diskriminierten religiösen und sozialen Minderheit in ein Spannungsverhältnis. «Menschenaufklärung kann mit Bürgeraufklärung in Streit kommen», schreibt Mendelssohn 1784 nicht zufällig. 9
Was Aufklärung sei, summiert Kant ganz knapp im berühmten ersten Satz seiner Abhandlung Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? so: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.» Europäische Aufklärung versteht sich als Aufklärung «des Menschen», in dieser Allgemeinheit. «Menschengeschlecht», «Menschheit», «man», «mankind», «l’huma-