III. Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud: Historisierung statt Haß
Der Vorwurf, daß die Maskilim den Talmud haßten, verachteten, entwerteten und verwarfen, stammt ursprünglich von den Gegnern der Haskala. Er ist, das kann gezeigt werden, unzutreffend. 92 Der Talmud, der in der rabbinischen Tradition als «mündliche Tora» gilt, welche die «schriftliche Tora» des Mose vom Sinai ergänzt und wie diese als unveränderliche, verbindliche Auslegung des Wortes Gottes und der göttlichen Gebote Geltung beanspruchen kann, wurde von den Maskilim vielmehr als historisches Dokument des Judentums durchaus geachtet. Ihre Polemik richtete sich gegen das ausschließliche Talmud-Lernen junger Männer in den Jeschivot, den religiösen Schulen, in denen es verboten war, sich andere, profane Wissensstoffe anzueignen. Die jüdische Erziehung wollten die Maskilim also grundsätzlich ändern. Und sie polemisierten gegen solche Rabbiner, die erreichen wollten, das alles beim alten blieb, und darum auf dem traditionellen «Lernen» des Talmud und auf seiner normativen Geltung in der Gegenwart beharrten.
Um gegen die normative Geltung des Talmud zu argumentieren, mußten die Maskilim zeigen, daß der Talmud nicht eine heilige Schrift und nicht die mündliche, von den Rabbinen der Antike schließlich verschriftlichte Tora war, sondern Menschenwerk, das unter bestimmten historischen Bedingungen entstanden war. War der Talmud nur ein ehrwürdiges historisches Dokument, das in 63 Traktaten und 6 Ordnungen, die gedruckt viele Folio-Bände füllen, Antworten auf die verschiedensten Probleme und Lebenslagen der Vergangenheit bot, das in der Gegenwart jedoch veraltet und überholt scheinen mußte, dann konnte