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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
Entstehung
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III. Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud: Historisierung statt Haß

Der Vorwurf, daß die Maskilim den Talmud haßten, ver­achteten, entwerteten und verwarfen, stammt ursprüng­lich von den Gegnern der Haskala. Er ist, das kann ge­zeigt werden, unzutreffend. 92 Der Talmud, der in der rabbinischen Tradition als «mündliche Tora» gilt, welche die «schriftliche Tora» des Mose vom Sinai ergänzt und wie diese als unveränderliche, verbindliche Auslegung des Wortes Gottes und der göttlichen Gebote Geltung bean­spruchen kann, wurde von den Maskilim vielmehr als hi­storisches Dokument des Judentums durchaus geachtet. Ihre Polemik richtete sich gegen das ausschließliche Tal­mud-Lernen junger Männer in den Jeschivot, den religiö­sen Schulen, in denen es verboten war, sich andere, pro­fane Wissensstoffe anzueignen. Die jüdische Erziehung wollten die Maskilim also grundsätzlich ändern. Und sie polemisierten gegen solche Rabbiner, die erreichen woll­ten, das alles beim alten blieb, und darum auf dem tradi­tionellen «Lernen» des Talmud und auf seiner normativen Geltung in der Gegenwart beharrten.

Um gegen die normative Geltung des Talmud zu argu­mentieren, mußten die Maskilim zeigen, daß der Talmud nicht eine heilige Schrift und nicht die mündliche, von den Rabbinen der Antike schließlich verschriftlichte Tora war, sondern Menschenwerk, das unter bestimmten histo­rischen Bedingungen entstanden war. War der Talmud nur ein ehrwürdiges historisches Dokument, das in 63 Trak­taten und 6 Ordnungen, die gedruckt viele Folio-Bände füllen, Antworten auf die verschiedensten Probleme und Lebenslagen der Vergangenheit bot, das in der Gegenwart jedoch veraltet und überholt scheinen mußte, dann konnte