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Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud
er aktuell keine Geltung mehr beanspruchen. Die Maskilim erklärten den Talmud zu einem historischen Dokument der Rabbinen und der jüdischen Geschichte und destruierten genau damit seine aktuelle Geltung: je älter, desto unbrauchbarer und ungültiger. Die Historisierung des Talmud hat seine Normativität schließlich ganz ausgehöhlt. Dieser Prozeß vollzog sich in Etappen, die hier exemplarisch aufgezeigt werden. 93
Aber der Haß der Maskilim auf den Talmud ist eine Erfindung ihrer Gegner. Es war Naftali Hartwig Wessely, der Poeta doctus und Poeta laureatus der Haskala, der mit seinem hebräischen Erziehungstraktat Divrej Schalom We’Emet von 1782 als erster Maskil diesen Vorwurf auf sich zog. 94 Dieser Traktat, der die k.u.k. Toleranzpatente Kaiser Joseph II. zum Anlaß hatte und die neu gewonnenen Freiheiten der Juden im österreichischen Kaiserreich als den Anbruch einer neuen Epoche würdigte, wurde noch im selben Jahr von David Friedländer unter dem Titel Worte der Wahrheit und des Friedens ins Deutsche übertragen und veröffentlicht. An etlichen Stellen hat Friedländer in dieser recht freien Übertragung Wesselys Argumente noch zugespitzt. Die schleunige Übertragung dieses aufklärungspolitisch brisanten Erziehungstraktats ins Deutsche zeigt, welche Bedeutung dem Autor Wessely und seinem Thema Erziehung zugemessen wurde. Worte der Wahrheit und des Friedens war eine der wenigen Schriften der Haskala, die sofort in zwei Sprachen und damit dem jüdischen wie dem nicht jüdischen Publikum zugänglich waren. Friedländer, der mit Daniel Itzig 1778 die aufgeklärte Jüdische Frey schule für arme jüdische Kinder in Berlin gegründet hatte, mußte stark daran interessiert sein, das Programm einer aufgeklärten jüdischen Schulbildung auch unter den christlichen Zeitgenossen publik zu machen.
Wesselys Büchlein war die inner jüdisch mit Abstand umstrittenste Schrift der Berliner Haskala: Obwohl oder vielleicht weil Wessely in mehreren Büchern als in den