IV. Haskala und Kabbala
Alles Lüge!
Wenn wir dem Bild trauen dürften, das Heinrich Graetz und in seinen Fußstapfen noch Generationen jüdischer Gelehrter von der Kabbala gemalt haben, kann nur dies die tiefste Überzeugung der jüdischen Aufklärer von der Kabbala, der jüdischen Mystik, gewesen sein: Alles Lüge. Der Sohar, das Hauptwerk der mittelalterlichen Kabbala, war, so wörtlich, eine «Fälschung», sein Autor Moses de Leon ein «Fälscher» und «Betrüger». 167 Und was dem folgte, war auch nicht besser. Gehen wir vom Wissenschaftsklischee aus, an dessen Bildung Protagonisten der Wissenschaft des Judentums wie Graetz nach Kräften mitgewirkt haben, so läßt sich ein größerer Gegensatz als der zwischen jüdischer Mystik, der Kabbala, und dem Rationalismus der Haskala, der jüdischen Aufklärung, gar nicht konstruieren. Da steht Haskala gegen Kabbala, Aufklärung gegen «Fälschungen», gegen «Aberglaube», 168 faulen Zauber, esoterische Dunkelheit und Unverständlichkeit. Und da Wissenschaftler, allemal Aufklärungsforscher, zur Parteinahme für Rationalität und Aufklärung neigen, leuchtet diese historiographische Grenzziehung zwischen Kabbala und Haskala und die mit ihr verbundene Taxinomie zunächst ein oder kommt jedenfalls den Erwartungen entgegen. Auch die Aufklärungsforschung in Deutschland wurde schließlich lange von der Abwertung der Esoterik zugunsten einer Erfolgsgeschichte des Rationalismus beherrscht. 169 Demzufolge konnte das Urteil schon der jüdischen Aufklärer selbst über Kabbala nur vernichtend gewesen sein. Bei David Friedländer, einem der Protagonisten der jüdischen Aufklärung in Berlin, hört sich 1799 das Urteil über die Wirkungen der Kabbala tatsächlich so an: