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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
Entstehung
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IV. Haskala und Kabbala

Alles Lüge!

Wenn wir dem Bild trauen dürften, das Heinrich Graetz und in seinen Fußstapfen noch Generationen jüdischer Ge­lehrter von der Kabbala gemalt haben, kann nur dies die tiefste Überzeugung der jüdischen Aufklärer von der Kab­bala, der jüdischen Mystik, gewesen sein: Alles Lüge. Der Sohar, das Hauptwerk der mittelalterlichen Kabbala, war, so wörtlich, eine «Fälschung», sein Autor Moses de Leon ein «Fälscher» und «Betrüger». 167 Und was dem folgte, war auch nicht besser. Gehen wir vom Wissenschaftskli­schee aus, an dessen Bildung Protagonisten der Wissen­schaft des Judentums wie Graetz nach Kräften mitgewirkt haben, so läßt sich ein größerer Gegensatz als der zwischen jüdischer Mystik, der Kabbala, und dem Rationalismus der Haskala, der jüdischen Aufklärung, gar nicht konstru­ieren. Da steht Haskala gegen Kabbala, Aufklärung gegen «Fälschungen», gegen «Aberglaube», 168 faulen Zauber, esoterische Dunkelheit und Unverständlichkeit. Und da Wissenschaftler, allemal Aufklärungsforscher, zur Partei­nahme für Rationalität und Aufklärung neigen, leuchtet diese historiographische Grenzziehung zwischen Kabbala und Haskala und die mit ihr verbundene Taxinomie zu­nächst ein oder kommt jedenfalls den Erwartungen entge­gen. Auch die Aufklärungsforschung in Deutschland wurde schließlich lange von der Abwertung der Esoterik zugunsten einer Erfolgsgeschichte des Rationalismus be­herrscht. 169 Demzufolge konnte das Urteil schon der jüdi­schen Aufklärer selbst über Kabbala nur vernichtend gewe­sen sein. Bei David Friedländer, einem der Protagonisten der jüdischen Aufklärung in Berlin, hört sich 1799 das Urteil über die Wirkungen der Kabbala tatsächlich so an: