120 Haskala und Kabbala
«In seiner ursprünglichen Verfassung hatte das Judentum weder Gebetsformeln noch Andachtsübungen. Thier- und andre Opfer vertraten die Stelle derselben. Bei der Zerstörung des Staats, und als die Juden unter andre Völker zerstreut wurden, mußte diese Lücke ergänzt, und ein anderer Gottesdienst angeordnet werden. Die Gebetsformeln, die nun verfaßt wurden - theils aus einzelnen Versen der heil. Schrift bestehend, theils von eigner Erfindung, deren Stil aber die Schwäche einer alternden Sprache verräth - ertönten von ewig wiederkehrenden Klagen über das die Nation bedrückende Elend, von Seufzern nach der Rückkehr ins verlorne Land, von Sehnsucht nach Wiederherstellung des Tempeldienstes. In allen diesen Gebeten ohne Ausnahme, ja sogar in dem Dankgebet für genossene Speisen, in den Segenssprüchen unter dem Trauhimmel, erschallte das Klaggeschrei von Sklaven, die nach Erlösung schmachten, das Gebet um einen Messias, der die zerstreuten Reste Israels nach Palästina zurückführe. Diese Gebete wurden von Jahrhundert zu Jahrhundert immer zahlreicher und immer schlechter, die Begriffe immer mystischer und mit Grundsätzen der Cabbala verunreinigt, die dem echten Geist des Judentums geradezu widersprachen. Endlich die Sprache, worin sie ausgedruckt [!] sind, beleidigt nicht allein das Ohr, sondern spottet auch aller Logik und Grammatik. Der bei weitem größte Theil der Nation versteht von diesen Gebeten nichts; und dieses ist kein kleines Glück, da sie auf diese Weise gar keine Wirkung, weder eine gute noch eine böse, auf das Gemüth der Betenden hervorbringen. - Dieses ist, in einem kurzen Umriß, die Geschichte der äußern Religion unsrer Genossen in den vergangenen Jahrhunderten .» 170
Die Kabbala und ihre Grundsätze haben nach Ansicht des Aufklärers Friedländer die Begriffe und die Gebete der Juden verunreinigt und zu deren jahrhundertelangem, auch religiösem Niedergang beigetragen, den nun die jüdische Aufklärung und Emanzipation beheben soll. Die Kabbala jedenfalls widerspricht geradezu dem «echten