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Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud
«Jede rücksichtslose sogenannte Verbesserung rächt der schiefe Ausgang; übereilte Neuerungen geben dem Alten, und - was das misslichste ist - dem Veralteten einen höheren Werth. Um also das Alte brauchbare, das Veraltete schädliche, das Neue wünschenswerthe zu kennen und zu sondern, müssen wir besonnen zu dem Studium des Volkes und seiner Geschichte schreiten, der politischen wie der moralischen.» 165
Zunz’ neue Wissenschaft, die er und Eduard Gans drei Jahre später «Wissenschaft des Judentums» nennen werden, 166 sieht hier allerdings nicht nur die rabbinische Literatur und den Talmud an ihrem Ende und schon als einen Teil der Geschichte des jüdischen Volkes, sondern auch die Haskala. Zunz ist kein Parteigänger der Haskala, er ist ihr Erbe. Seine Wissenschaft kann und soll sich nicht weltanschaulich betätigen, sondern mit besonnener politischer und persönlicher Distanz von den großen Ideen, Büchern und Ereignissen der jüdischen Geschichte Rechenschaft ablegen. Die Haskala hat um Ideen gekämpft, die Wissenschaft berichtet von diesen Kämpfen. Leitwissenschaft und Ort des Kampfes der Ideen war für die ganze europäische Aufklärung und auch die Haskala die Philosophie; Philosoph und Aufklärer sind beinahe Synonyme. Leitwissenschaft unter den Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts wird hingegen die Geschichtswissenschaft. Geschichte und Philologie als Leitwissenschaften dominieren die Wissenschaft des Judentums von Anfang an, bei Zunz und bei allen, die von ihm lernten. Der Sieg der Haskala im Feld von Philosophie und Ideologie bereitete erst den Platz für Philologie und Historie. Diese hatten die religiös entmachtete rabbinische Literatur nicht mehr zu ihrem Gegner, sondern zu ihrem Gegenstand.